Mittwoch, 8. Mai 2013

Etappe 4: Admiration from the sideline.

Von Chepstow nach Shrewsbury.

Der Tag startet mit einem ausgewogenen (naja!) Frühstück in Tiverton. Die Kellnerin betrachtet uns von oben bis unten. In unseren Fahrradsachen an ihrem Tisch sitzend, Blick in den grauen Morgen vor den Fenstern, sehen wir vermutlich wie kleine Helden aus. Oder wie kleine Verrückte. Wie man‘s nimmt.

Die Kellnerin versüßt sich die Morgenroutine, indem sie ein wenig mit uns smalltalked. Man kennt das ja schon: „Where are you going today? Where do you come from? Reeaaally??“ Ihr fällt fasst die Kaffeekanne aus der Hand. Sie folgt unserem Blick in die dichte Wolkendecke vor den Fenstern und verabschiedet uns mit dem Worten: „Well, it’s going to be a dull day.“ Wie recht sie hatte …

Wir schwingen uns auf die Räder und schaffen es gerade mal bis vor die Tore der Stadt Tiverton bevor wir schon wieder anhalten müssen. Rechts von uns ragt die Ruine der Tintern Abbey wortlos Geschichten erzählend in den walisischen Himmel. Gemächlich gehen Kühe aus und ein und nagen drinnen wie draußen am unverschämt grünen Gras.

Nur noch von Kühen bewohnt: Tintern Abbey.

Aber nicht nur die Klosterruine ist der Inbegriff von „Idyll“ – auch das „Abbey Hotel“ gegenüber sieht mehr als einladend aus. Auf jeden Fall hat es mehr Charme als die Hotelkette, in der wir die Nacht gerade verbracht haben. Wir beißen insgeheim in unsere Lenker, weil wir am Vorabend nicht noch die paar Kilometer weitergerollt sind. Aber wer hätte das auch ahnen können!

Schöne Übernachtungsmöglichkeit! Aber nicht für die, die am Vorabend schissig waren und das erstbeste Hotel frequentierten.

Wir rollern ganz gerade durchs Land, immer Richtung Norden im Tal des "River Wye". Der Himmel zieht sich zwar zu, aber noch schafft es die Sonne immer mal wieder durch die Wolkendecke. Noch immer in Wales passieren wir Monmouth und staunen beide über den Zusatz auf dem Ortseingangsschild: The world‘s first wikipedia town. Was heißt das nun wieder? Die erste Stadt, die in Wikipedia erwähnt wurde? Nope. Wieder zurück klärt das große, weite Netz auf: Es handelt sich um ein Projekt, bei dem Wikipedia Informationen zu einer ganzen Stadt abdecken will. Überall kleben QR-Codes dran und jeder kann sich über alles informieren. Damit das auch klappt, gibt’s auch gleich kostenfreies W-Lan in ganz Monmouth.

Hach, England so weit das Auge reicht.

Die Straße ist wirklich schrecklich langweilig: Kilometerweit geradeaus, oft auf heckengeflankten Schleichwegen. Inzwischen tröpfelt es auch immer mal wieder. Wir haben noch keine 60 Kilometer in der Tasche und schon ist Mittagszeit und der Hunger schreit nach Kohlenhydraten. Zum Glück hatte die Reiseleitung vom heimischen Wohnzimmer aus eine Kleinstadt mit idyllischer Altstadt zum Hungerloch auf den Weg geplant. Nur leider ist die Wirklichkeit am Ende doch immer ganz anders als die idyllische Planung. Die schöne Altstadt feierte Stadtfest – und war randvoll mit Buden und Fahrgeschäften. Und wenn ich randvoll sage, dann meine ich randvoll. Ein sich schaukelnd, drehend überschlagendes Etwas war so eng in eine Gasse gepflastert, dass die kreischenden Fahrgäste zum Zeitpunkt des höchsten Ausschlags ihrer Nussschale an die Fenster der Häuser rechts oder links klopfen konnten.

Taten sie aber zum Glück nicht. Sie waren ja mit Kreischen beschäftigt.

Wir schoben unsere Räder über das Kopfsteinpflaster und unter den Schaukeln hindurch. Irgendwann entdeckten wir ein kleines Café und ich wurde vorgeschickt, um die Qualität der Kuchenauslage zu überprüfen. Ich linste durch die Tür und traute meinen Augen nicht: Das Café war eine Kirche! Ich kam also gar nicht erst bis zur Kuchenauslage, sondern entschied gleich, dass wir uns das mal aus der Nähe anschauen müssten. Wir schoben die Fahrräder zusammen und traten in die Cafirche.

Gut, der Ausschank erinnerte sehr an Kantine, aber der Wirt war sehr nett. Er staunte über uns und als wir ihm erzählten, was wir vor hatten, schüttelte er nur anerkennend mit dem Kopf: „I admire you from the sideline.“

Wir suchten uns den schönsten Tisch in der Kirche aus – gleich neben den Kirchbänken. Neben uns pläuschte der Pfarrer mit einem jungen Paar. Als er dann noch seinen Blackberry zückte, um ein paar Termine zu überprüfen, war ich von der schrägen (Un-)Heiligkeit dieses Ortes überzeugt und verlor alle Hemmungen: Ich kramte meine Kabelage aus und kroch mit meinen Ladegeräten und dem Garmin auf allen Vieren durch das Kirchschiff bis ich eine Steckdose unter dem Podest entdeckte, die ich mit ein wenig Hinhangeln auch erreichte. Ich stöpselte ein, das Garmin gluckste erleichtert und auch ich war zufrieden.

Auftanken in der Cafirche: Auch Paddington und das Garmin wussten die kirchliche Weltlichkeit zu schätzen.

Gut gestärkt ging es weiter. Wieder kamen wir nicht weit: An der Strongbow-Fabrik – noch immer in Hereford – mussten wir fix ein Erinnerungsfoto machen. Wir zückten Paddington und die Kamera, ich knipste ein Testbild und wollte mich gerade bereit machen, um auf dem Asphalt für eine bessere Perspektive bäuchlings zu Boden zu gehen, als schon der Wachmann mit grimmigem Gesicht ankam. Ich wurde gleich ganz bleich und zittrig. Würde er schimpfen? Mir die Kamera wegnehmen? Müsste ich meinen Chip formatieren?

Er grummelte irgendwas von „Not allowed!“. Ich klimperte unschuldig mit den Augen und erläuterte stammelnd was von „Big fans! Love Strongbow! Just for memorizing!” Mir kam in den Sinn, dass ich Bier überhaupt nicht mag und mich die Strongbow-Bilder wie der letzte Reis in China interessierten. Aber ich klimperte tapfer weiter. Der Wachmann murmelte was von „Take picture and piss off“. Ich glaube, er hat es netter formuliert, aber durch meine angstgeschwängerten Ohren kam nur Krieg an. Ich drückte noch einmal schnell auf den Auslöser, packte meinen Teddy ein und suchte das Weite.

Mehr als nur ein Beweisfoto: Geknipst unter gefühlter Lebensgefahr.

Hinter Hereford ging es weiter auf kleinen Straßen, mal mit Hecke, mal ohne. Der Himmel bedeckte sich zunehmend und tröpfelte weiter ein paar Regentropfen auf uns. Bei einer Husche nutzten wir die Chance und gingen in einem Dorf-Tante-Emma-Laden shoppen. Es bedürfte einiger Nachschubkekse für die Notration. Ich wählte welche aus der Region und zählte der netten Verkäuferin das Geld in die Hand. Sie: „Where are you cycling today?“ (Man kennt das ja schon …) Ich: „Today, it’s up to Shrewsbury.” Sie: “Oh gosh!!” Schweigen. Noch mehr Schweigen. Dann zuckt sie mit den Schultern und fügt hinzu: “Well, it’s not as far as it seems, actually.“

Von hier sei es nicht mehr gar so weit bis Shrewsbury, meinte die Verkäuferin. Da waren es noch 90 Kilometer.

Zur Strecke gibt es immer noch nicht viel zu sagen. Nach wie vor erstaunlich langweilig und unspektakulär. Dazu ein immer mal wieder einsetzender Nieselregen. Oder wie der Brite sagen würde: Nothing to write home about, really.

Den 5 o’clock tea gab‘s im urgemütlichen Lion Hotel in Leintwardine. Es erstaunte uns immer wieder, wie wir uns mit unseren vermatschten Klamotten in die schicksten Sessel setzen dürften – ohne dass einer schimpfte.

Paddington war noch der sauberste von uns allen. Wenn es regnete, kam er unter den Regenschutz. Wir Fahrradfahrer hingegen sahen dann eher aus wie kleine Dreckschweinchen.

Noch mehr einsame Straßen mit Hecken.

Zum späten Nachmittag sind sie dann ganz nah: die ersten sanften Berge. Die, die mir zeigen, dass wir uns meinem geliebten Schottland nähern. Auch die Sonne kommt zum Abend noch mal raus und so sind die letzten Kilometer wieder wunderschön und retten den ansonsten häufig sehr trostlosen Tag.

Grün in grün. So habe ich Schottland in Erinnerung. Aber noch sind wir in England …

Abendsonne genießen.

Gegen halb acht erreichen wir Shrewsbury. Das The Lion gibt uns ein Bett für die Nacht und zu Abend essen wir ausgezeichnet im Henry Tudor House.

Und für die Arzthelfer unter uns: Die körperliche Bestandsaufnahme liest sich so: Meinerseits fällt das Treppensteigen schwer, der Rücken knarzt tagsüber, aber das lässt auch wieder nach. Der Po fühlt sich arg gerötet an. Beim Mitfahrer klingt’s ähnlich katastrophal: Der Po ist im Arsch, die linke Wade knackt, die rechte Schulter sticht. Aber zumindest ist der Rücken wohl besser als nach einem Bürotag.

Beim Zubettgehen wird nur noch über den tropfenden Wasserhahn gelästert. Entnervt schmeißen wir die Badtür zu. Den Wasserhahn hört man jetzt nicht mehr. Allerdings geht die Tür auch nicht mehr auf. Der Knauf ist hin. Phew! Die Rezeption muss es richten. Erst dann können wir einschlafen. Gute Nacht!

Fazit: Es ist doch erstaunlich: Da fährt man 110 langweilige, anstrengende Kilometer auf unschönen Straßen und man denkt die ganze Zeit daran aufzugeben. Und dann kommen auf den letzten Metern ein paar schöne Berge und die Sonne lässt sich nochmal blicken – und schon ist es ein herrlicher Tag gewesen!

Unterkunft
The Lion
Wyle Cop
Shrewsbury
Shropshire
SY1 1UY

Unterwegs
The Lion Hotel
Henry Tudor House



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