Montag, 19. Februar 2007

Deutschlandreise

Eigentlich gefällt es mir besser, wenn meine Deutschlandreise "Ein Tag in Paris" heißt. Denn das war ja auch der eigentliche Grund. Einen Tag in Paris zu verbringen und mit einer Freundin einen Kaffee zu trinken. Aber das ist nicht der Anfang meiner Geschichte.

Meine Geschichte beginnt am Sonnabend bevor ich losfuhr. Denn da saß Schiller in einem Café bei mir um die Ecke und da wusste ich, dass es eine gute Reise werden würde. Als ich im letzten Jahr meine Magisterarbeit über Schiller schrieb, war er, sein Denken, seine Dramen ... alles ... überall in meinem Leben. Ich verbrachte mehr Zeit mit ihm als mit meinen Freunden. Das machte sich auch in meinem und ihrem Reden bemerkbar. Wenn ich ging, sagte ich: "Ich muss zurück zu Schiller." oder "Schiller wartet noch auf mich." Wenn ich kam, fragten sie: "Wie geht es Schiller?"

Je mehr ich von und über ihn las, desto näher war er mir. Und je mehr mir bewusst wurde, dass er schon seit 200 Jahren tot ist, desto trauriger wurde ich. Manchmal, wenn ich Teile aus seinen Aufzeichnungen ("Heute lief mir xy an der alten Eiche über den Weg") oder aus den Aufzeichnungen seiner Zeitgenossen las ("traf ich Schiller im Gasthaus"), fragte ich mich, wie es gewesen sein mochte, in seiner Zeit gelebt zu haben und ihn gesehen zu haben. Ihn. Meinen Schiller.

Eines Abends lief ein großartiger Schiller-Spielfilm im Fernsehen, der die Jahre, in denen er seine ersten Dramen schrieb (also die Zeit, über die ich auch meine Arbeit schrieb) nacherzählte. Den Schiller spielte Matthias Schweighöfer, ein junger Nachwuchsschauspieler - und zwar großartig wie ich fand. Noch ganz beseelt von diesem großartigen Film ging ich am nächsten Tag durch meinen Kiez. Entgegen kam mir – Herr Schweighöfer ... den ich keine Sekunde lang als Herrn Schweighöfer erkannte, sondern als das, was er in diesem Moment für mich war: Schiller. Diese Mischung aus high sein und Hysterie (unterdrückter, natürlich - denn ich sprang den armen Mann keineswegs auf offener Straße an, sondern ging - ganz Berlinerin - übermäßig cool und äußerlich desinteressiert an diesem Jahrhundergenie vorüber ;-)) hielt ca. fünf Minuten an. Und ich wusste in diesen fünf Minuten, wie es damals - vor 200 Jahren - gewesen sein musste, Schiller auf der Straße getroffen zu haben.

Jedenfalls - ich habe Herrn Schweighöfer nie wieder hier gesehen - bis zu besagtem Sonnabend vor meiner Abreise, deren erster Zwischenstop Weimar sein würde. Da sah ich ihn wieder: in einem Café gleich neben dem Markt. Ich hatte mir gerade ein Reisetagebuch gekauft - mit handgeschöpften Blättern. Als ich Schiller dort sitzen sah - wusste ich, dass es eine gute Reise werden würde. Und so war es auch.

Weimar.
Mein Reisetagebuch sagt:
"Ich steig hinab zu dir in deine Gruft. Es ist still. Ich versuche, jedes Geräusch zu vermeiden, denn hier unten ist alles fünfmal so laut wie sonst. Selbst das Kratzen des Stiftes auf dem Papier. Hier steh ich nun vor dir und weine leise Tränen. Ganz allein in deiner Gruft."
"Es gibt hier Busse, auf denen ‚Shakespearestraße' steht. Andere fahren zum ‚Goetheplatz'. Warum wohne ich nicht hier? Ich bestelle Thüringer Klöße mit Rotkohl und natürlich heiße Schokolade. Schon die Zweite. Nur, dass ich hier "Kakao, bitte." sage. Weil das besser passt.
Ich sage:
Rein städtetechnisch war Weimar der schönste Ort von allen. Ich war unendlich gerührt von der Vorstellung, dass Goethe und Schiller hier gelebt haben. Vielleicht erscheine ich ein bisschen verrückt mit meinem Schiller-Kult. Aber ich habe einmal in einem Buch gelesen: "Wenn man die Person nicht liebt, über die man seine Dissertation schreibt, wird es langweiliges Zeug." Ich glaube, da ist was Wahres dran.

Am nächsten Nachmittag war ich in Siegen. Ich traf dort meine ganz große Internet"liebe" von vor einem Jahr. Wir chatteten und telefonierten damals sehr viel - bis es irgendwann so perfekt wurde, dass vor allem ich Angst davor hatte, dass wir uns im richtigen Leben trafen, weil niemand so sein kann wie die Vorstellung, die der andere von einem hat.

Als wir uns dann endlich durchgerungen hatten und alles auf eine Karte zu setzen bereit waren, hat er sich in eine andere Frau verliebt und alles abgesagt. Na fein - mein Herz war hinüber und ich schwor mir, niemals wieder mit jemandem mehr als drei Mails zu wechseln, bevor ich auf ein Treffen im Real Life dränge. Weil er aber trotz neuer Liebe alles daran setzte, mich aufzufangen und es nicht in seiner Absicht lag, mir wehzutun, haben wir es doch wieder so weit hinbekommen, dass wir zwar nicht mehr viel chatteten, aber doch irgendwie immer füreinander da waren (so gut das eben geht, wenn man nur Internet und Telefon hat), wenn es einem von uns schlecht ging.

Ich habe lange überlegt, ob ich ihn besuchen fahre. Natürlich wollte ich ihn sehen, aber gerade jetzt ging es ihm so schlecht, dass ich das Gefühl hatte - so absurd das klingt - ich könnte ihm mehr helfen, wenn ich jemand Entferntes, Ungekanntes in seiner Vorstellung bin und nicht real werde. Manchmal ist es leichter, mit jemand Fremdem, der einem dennoch irgendwie vertraut ist, über seine ganzen Gefühle, Ängste und Verzweiflungen zu reden als mit jemandem, der wirklich da ist. Ich habe am Ende ihm die Entscheidung überlassen. Er hat gesagt, ich solle kommen.

Siegen.
Mein Reisetagebuch sagt:
"Was dachte ich, wie schwer, aufregend, enttäuschend, zerstörend es sein würde. Aber es war einfach nur ... es war einfach nur! Ich war gern bei ihm und wäre gern länger geblieben. Aber er konnte mir nichts anhaben. Er kam mir nicht nah. Und das war erleichternd. Er ist in echt weniger schön als ich es mir vorgestellt habe, aber dennoch schön. Ich mag seine Haare und die Augen. Aber am meisten mag ich immer noch seine Stimme und wie er redet. Oberes Schloss. Unteres Schloss. Bergauf. Bergab. Schweigen. Sagen. Ich habe mich merkwürdigerweise auch rechts von ihm wohlgefühlt. Egal auf welcher Seite von ihm ich lief - es war beides richtig. Apfelsaft in warm mit Zimt und Amaretto im Café & Bar Celona. Weihnachtsmärkte. Das Es. Geschichten von Pokalen. Alles gut. Alles gut. Er muss den Dingen ihre Bedeutung wiedergeben. An einer Stelle glaubte ich, er hätte geweint."
Ich sage:
Dass ich einfach wieder abfahren konnte ohne einen Teil von mir (meist ist es das Herz ;-)) dort gelassen zu haben, war das Schönste an dem Besuch. Alles richtig gemacht. Das Traurigste war, zu sehen, wie verzweifelt und unglücklich er war - und ich konnte nicht helfen. So sehr ich es auch gewollt hätte.

Abends bin ich dann nach Düsseldorf zu Lubes Lesung gefahren. Jeder, der die Fahrverhältnisse in Düsseldorf und Umgebung kannte, versicherte mir, ich würde es auf keinen Fall rechtzeitig nach Düsseldorf schaffen. Ich sagte mir die ganz Zeit nur: Ich muss, ich muss, ich muss und fuhr mit 190 km/h Richtung Westen. Ich dachte die ganze Zeit nur, wie traurig es sein würde, würde ich die Lesung, wegen der ich ja eigentlich überhaupt erst aufgebrochen bin und diese ganze Reise geplant hatte, verpassen. Ich aß Abendbrot während des Fahrens und konzentrierte mich in Düsseldorf auf alle Straßennamen, weil ich mich auf keinen Fall verfahren durfte. 19:25 Uhr - fünf Minuten vor Beginn - parkte ich mein Auto vor dem Club, in dem gelesen wurde.

Die Lesung war toll. Nachdem sich die Texttouristen eingelesen hatten, wurde es richtig gut. Ich habe viel gelacht und auch einiges gelernt. Zum Beispiel, dass es gar nicht schlimm ist, wenn sich alle kennen, nur man selbst kennt niemanden. Auch, dass es verschiedene Variationen des Albinismus gibt und dass PR überall ein bisschen gleich ist und dass Sonntage den Paaren gehören. Und vor allem habe ich gelernt, dass es lohnt, sich zu überwinden und "Hallo" zu sagen. Ich hatte Lube vorher nicht gesagt, dass ich zu seiner Lesung kommen würde. Und hinterher habe ich nicht gewusst, wie ich ihm sagen sollte: Hallo, da bin ich. Ich war kurz davor, einfach zu gehen, doch dann wieder wusste ich nicht, wie ich ihm später sagen sollte: du, ich war übrigens da. Vor lauter Unwissenheit und Unsagbarkeit und Unsicherheit bin ich dann einfach hin und habe gesagt, dass ich die Lesung schön fand und mich freue, hergekommen zu sein. Und, ach übrigens, ich bin die ....

Düsseldorf.
Mein Reisetagebuch sagt:
"Abends die Lesung. Während er sprach, habe ich ihn wiedererkannt. Wenn er schwieg und die Bühne verließ, habe ich ihn verloren. Ich musste erst wieder ein paar Sätze von ihm hören, bevor ich wieder wusste: das ist Lube."
"Die Texttouristen und die Texttouristin waren noch auf ein Bier. Jörg möchte gern Halbberliner sein und hat den ganzen Abend von der schönen Stadt Berlin geredet. Jan hat gesagt, ich sei ‚die Frau mit den schönen weißen Zähnen' und er müsse da unablässig hinsehen. Lutz geht mit mir einen Kaffee trinken morgen. Ich gehe schlafen jetzt."
Ich sage:
Manchmal mag ich keine neuen Menschen kennen lernen, weil es gemütlicher ist, wenn man sich in sich selbst zurückziehen kann. Ich stand kurz davor, mich in mich selbst zurückzuziehen und einfach zu gehen. Ich bin froh, dass ich soweit gereist bin, dass es mir absurd vorkam, einfach ohne ein Wort wieder zu gehen.

Mein Köln-Besuch würde jeden normalen Touristen mit Grauen erfüllen, wenn nicht sogar ihm den Vorwurf des "Banausentums" auf die Lippen zaubern. Für mich war es genau das, was ich wollte: Ankunft - Parkplatzsuche - Parisbahntickets gekauft - Kölner Dom kurz angeblinzelt - zwei Fotos gemacht - durch die Stadt geeilt - zwei Stunden mit Lube zu Mittag gegessen - wieder zurückgeeilt - gedanklich Münze geworfen, ob noch schnell hoch auf den Dom oder gleich Weiterfahrt - für Dom entschieden - schnell noch zwei Postkarten gekauft - Dom hochgesprintet, weil schon in Zeitnot - Alter und Knochen gemerkt - Lunge hyperventiliert - geschworen, nie mehr auf Türme klettern zu wollen - oben keinen Bock auf Ausblick gehabt, weil schon Schiss vorm Abstieg - mit zitternder Hand Postkarten vollgekrakelt: "Köln toll, Wetter schön, Dom hoch" - Abstieg - mit Schwindel und lahmiger, niederländischer Teenager-Reisegruppe gekämpft - Schwindelkampf gewonnen - Teenagerkampf verloren - noch mal Foto von Dom gemacht - Postkarten in Briefkasten geworfen - Parkticket in einer Höhe bezahlt, als würde ich das ganze Parkhaus kaufen wollen - Weiterfahrt. :)

Köln.
Mein Reisetagebuch sagt:
"Köln ist ein bisschen wie Wien ... mit dem ganzen - so würde der Österreicher sagen - "Naschwerk in den Auslagen der G'schäft". Und es ist ein bisschen wie Barcelona - mit dem Dom, der plötzlich vor einem steht, wenn man um die Ecke kommt. Mandy würde die Gullideckel mögen - es sind kleine Stadtpläne. Ich habe Paris gebucht."
"Essen mit Lube war toll und lecker. So viel Zeit. Es ist schön, einfach nur Zeit vergehen zu lassen."
Ich sage:
In Köln gibt es voll den leckeren Nudelauflauf! :)

In Heidelberg hab ich dann meinen Bruder und seine Frau besucht. Nach all den Querelen im letzten Jahr, war ich zur Hochzeit der beiden im September endlich wieder beruhigt. Beide so glücklich miteinander zu sehen, hat mir gut getan und ich konnte wieder daran glauben, dass alles so und nicht anders sein soll. Auch das hat mir gut getan. Ich habe mich wirklich darauf gefreut, die beiden zu sehen. Leider.

Heidelberg.
Mein Reisetagebuch sagt:
"Apfelstrudel mit Vanillesoße und heiße Schokolade. Ganz oben auf dem Schloss. Vielleicht kommt es mir nur so vor, aber irgendwie werde ich nicht ganz warm mit dieser Stadt. Sie liegt da - mit all ihrer Schönheit und ihrem Charme. Aber immer will ich weg von ihr. Immer tut sie mir weh. Die junge Ehe schreit, spuckt, zickt, schimpft, jammert. Nicht mal ich glaube, die Ehe könne nach zwei Monaten das, was sie ihr vorwirft: Die Bemühungen und die Wertschätzung erkalten lassen. So schnell verändert es sich doch nicht. Und selbst wenn - ich frage mich, woher sie das nimmt - dieses Gefühl, dass es mich interessieren könnte, dass ich es hören wollen würde: wie rücksichtslos mein Bruder ist. Wie schlecht er sie behandelt. Wie sie die Ehe mit ihm nicht erträgt. Ich will sie am liebsten nicht mehr besuchen in dieser Stadt. Schweigen zu müssen, während sie über ihn schimpft. Ist schwer. Aber nichts ist so schwer, wie mitanzusehen, wie er zu all dem schweigt. Ich werde krank in dieser Stadt."
Ich sage:
Mein Bruder gehört zu den besten Menschen der Welt. Und wenn sie mir sagt, dass ihre Mutter sie am Telefon tröstet mit: "Aber du hast doch vorher gewusst, worauf du dich einlässt." klingt das so, als wolle sie mir sagen, ihr würde gerade bewusst werden, dass sie einen Kinderschänder geheiratet hat. Und dann bringt sie das schwärzeste meiner schwarzen Seele zum Vorschein. Weil es mir das Herz bricht.

Der Nachtzug fuhr mich nach Paris. Mein Ziel. Es war mir vorher nicht so klar, aber was die Reise unter anderem so besonders gemacht hat, war, dass man ein - wenn auch falsches - Gefühl für Entfernung bekam. Natürlich habe ich die Strecken zwischen den einzelnen Städten schnell zurückgelegt. Aber dennoch brauchte ich fünf Tage, um nach Paris zu kommen. Manchmal mag ich nicht, dass man das Gefühl für Entfernungen verliert, wenn man in ein Flugzeug steigt oder selbst, wenn man mit dem Auto fährt. Man fährt weit weg und ist doch gleich da. Dass es fünf Tage braucht, um nach Paris zu gelangen, machte es ein wenig wirklicher.

Paris.
Mein Reisetagebuch sagt:
" J'ai dormi dans le train et je me suis réveillée à Paris. J'ai vu la ville s'éveiller et j'étais la première sous la Tour Eiffel. J'ai recontré la Mort dans les catacombes et je célèbre la vie en dégustant de crêpes. Je suis heureuse. "
Ich sage:
Ich habe seit langem mit Hélène einen Kaffee in Paris trinken wollen. Dieser Kaffee hat mich insgesamt mehr als 500 Euro gekostet. Er war es wert.
wasserfrau - 21. Feb, 23:45

Ein wunderschöner Reisebericht:-))


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren