Sonntag, 7. Oktober 2012

Von Naila nach Leipzig.

Tag 2: Ich bin über Flüsse gefahren.
Ich habe Täler durchquert.
Ich bin durch Wälder gefegt.
Ich habe Berge erklommen.
Und ich habe einen Mountainbiketrail geschoben.


Der schwierige zweite Tag begann mit einem Augenblinzeln und dem vorsichtigen Bewegen aller Gliedmaßen. Vor dem zweiten Tag hatte ich seit Planungsbeginn den meisten Respekt. Die Vorfreude des ersten Tages würde weg sein und die Euphorie der Zieleinfahrt noch weit entfernt. Aber ein kurzer Systemcheck meldete zumindest schon einmal, dass kein Muskel katerte. Auch der Po fühlte sich nicht anders an als sonst und so konnte ich selbigen gut gelaunt zum reichhaltigen Frühstücksbüffet tragen, wo die betagten Gäste sich über den Use Case Facebook austauschten als gäbe es nichts Wichtigeres zu bereden in der zweiten Lebenshälfte.

Noch vor neun Uhr saßen wir gestärkt und frohen Mutes wieder auf den Rädern und es ging weiter gen Norden. Als Ziel gab die Statistikabteilung Leipzig vor. Nach meinen Berechnungen keine 150 Kilometer; die Statistikabteilung beharrte jedoch darauf, dass es mehr sind. Mindestens 170. Vorsichtshalber legten die Statistiker ab Tag 2 den Zwei-Schicht-Betrieb ein. Ganz offensichtlich war das ja notwendig.

So wenig ich den Vortag am Morgen in den Knochen spürte, so lang kam mir plötzlich jeder Kilometer, jeder Anstieg und jede Schotterstrecke vor. Irgendwas war so, wie es nicht sein sollte. Die ersten 25 Kilometer zogen sich wie Kaugummi und die Statistikabteilung hatte alle Hände voll zu tun: Um mich bei Laune zu halten, spuckte sie allerlei Zahlen aus, die alle auf dasselbe hinaus liefen: es ist wirklich nicht mehr weit. Bei Kilometer 175 schloss ich die Statistikabteilung mit ihren komischen Berechnungen ins Herz.

Aber Herz hin oder her – ich musste etwas für meine mentale Stärke tun: und zwar anhalten. Von Liebschütz ging es mehr als 200 Höhenmeter hinab, wobei selbst die Abfahrt anstrengend war, und wir kamen endlich zum Stehen: auf einer Brücke. Diese gab den Blick nach rechts frei in ein erhabenes, stilles Tal. Und nach links auf eine Eisenbahnbrücke mit wunderschön geschwungenen Bögen. Ich alter Brückenfan kam nicht umhin, trotz aller Anstrengung zu staunen und mich zu freuen. Ich weiß nicht, was es ist, das mich an Brücken fasziniert. Es ist sicher nicht die Ingenieurskunst, wie man mir immer wieder versucht weiszumachen. Sie haben vielmehr eine ganz eigene Ästhetik, die auf mich eine magische Anziehungskraft ausübt. Es war also ein guter Ort für die erste Frühstückspause.

Bridge
Verbotene Früchte. Verbotener Blick auf die Brücke.

Wir kletterten über die Absperrung (noch eine Premiere für mich!) und machten es uns an der tosenden Staustufe bequem. Erstmal essen. Wir saßen lange da. Sprangen auf, um Fotos zu machen. Setzten uns wieder hin, um weiter zu essen. Stundenlang hätte ich dort verweilen mögen. Es war so idyllisch und hin und wieder ließ sich sogar die noch etwas schüchterne Sonne blicken. Aber das Ziel war Leipzig und so mussten wir früher oder später weiter. Aber das Weiterfahren war besser als das Ankommen: Es war genau die Pause, die ich gebraucht hatte, um meine Geister wieder zu wecken. Von Ziegenrück an rollte das Caad wieder als hätte es nie etwas anderes vorgehabt.

Und zur Eingewöhnung musste es auch gar nicht mal weit rollen. Hinter Tausa reihte sich ein Pflaumenbaum an den anderen. Und nachdem ich am Vortage schon gelernt hatte, dass Früchtepflücken genauso zwingend zum Radfahrausflug gehört wie Statistikabteilung und Pflicht- und Kürkilometer, bremste ich ab. Und tatsächlich: Der Mountainbiker hatte die Hände schon im Baum bevor ich überhaupt richtig abgestiegen war. Nun waren wir ganz offensichtlich nicht die ersten, die die Idee hatten, sich den Sommertag mit einem Pflaumenkompott zu versüßen. Egal an welchem Baum und egal unter welchem Ast – jede erreichbare Pflaume begann dort, wo unsere Fingerspitzen gerade so nicht hinkamen, wenn wir auf Zehenspitzen stehend ins Leere angelten. Aber die Low-Hanging-Fruit sind ja auch was für die Small-Effort-People. Und zu denen gehörten wir ja bekanntlich schon seit 190 Kilometern nicht mehr.

Der Mountainbiker zögerte nicht lange, schob sein Rad unter einen Baum, sagte ‚Hier, halt mal gut fest.‘ zu mir und eh ichs mich versah, akrobatierte er auf dem Oberrohr seines Rades und hangelte nach dem nächstbesten vollbehangenen Ast. ‚Ohgottohgottohgott‘ ging mir gerade noch so durch den Kopf, als ich schon hörte: ‚Ach, du hast ja deinen Helm noch auf. Wie praktisch.‘ Und schon wurde geschüttelt, was die fragile Mann-auf-Rahmen-Statik hergab und das Kompott purzelte fröhlich auf meinen Helm. In der Tat sehr praktisch, befand ich nun auch. Und eh ichs mich versah, war der schlaraffenlandige Regen auch schon wieder vorbei und der Mountainbiker stand wieder auf Augenhöhe vor mir. Unverletzt. Wie durch ein Wunder. Ich freute mich und zwinkerte meinem Caad aufmunternd zu: ‚Keine Sorge. Niemals würde ich mit meinen Schuhen auf deinen Rahmen steigen!‘

Raeder
Da machste was mit, als Rad ...

Nachdem wir uns die Taschen und die Backen mit Pflaumen vollgestopft hatten, ging es weiter. So frisch gestärkt, kamen wir gut voran und erreichten die Autobahnüberquerung schon viel früher als gedacht. So früh, dass sogar die Statistikabteilung zugeben musste, dass das erstaunlich war. Höchst erstaunlich. Und zwar so erstaunlich, dass sie anzweifelte, dass wir überhaupt noch richtig waren.

Nun hasse ich Verfahren ja wie die Pest. Wahrscheinlich, weil ich so anfällig dafür bin. Wenn man von allen Wegen, die ich je gegangen, gefahren, gehüpft und getanzt bin, diejenigen abzöge, die ich mich verlaufen hab, würde man vermutlich feststellen, dass ich mich niemals bewegt habe.

Aber hier mussten wir einfach richtig sein. Das Garmin hatte uns schließlich hierher geführt. Seitdem ich das Garmin besaß, bewege ich mich endlich vorwärts. Das Gerät weiß alles. Es kennt alles. Und es vergisst nie einen Weg. Wir waren also richtig.

Bei genauerer Betrachtung jedoch waren wir falsch.

Das Garmin zeigte plötzlich zwei Routen an: Die, auf der wir hätten sein müssen und die, auf der wir waren. In mir brach eine kleine Orientierungswelt zusammen. Warum hatte das Garmin nicht Alarm geschlagen als wir falsch abgebogen sind? Und wo kam überhaupt der zweite Weg her? Wer hatte das autorisiert? Es war zum Verzweifeln. Zurückgefahren wird nicht. Es ist wie im echten Leben: Bloß weil man vor sich keinen Weg mehr sieht, kommt man rückwärts auch nicht weiter. Zum Glück können andere auch Wege sehen, die nicht das Garmin vorgibt und so tauschten wir für ein paar Kilometer die Reiseleitung. Das Mountainbike wusste, wo lang und das Caad folgte.

Eine Frage, die uns auf der ganzen Tour begleitete, war die nach dem Heldenstatus. Meine Rennradsozialisation war begleitet von Heldengeschichten: 100 Kilometer an einem Tag? Held! Den ganzen Tag bei Regen und Kälte gefahren? Held! Mit den Klickies vom Rad gefallen und wieder aufgestiegen? Held!

Und nun fuhr ich 500 Kilometer von Nürnberg nach Berlin – mit einem, der partout kein Held sein wollte. Denn Helden, so der Mountainbiker, seien die, die die Drachen töteten und die Prinzessin retteten. Oder die, die jemanden unter Einsatz ihres Lebens aus den brennenden Flammen retteten. Wer ein bisschen Fahrrad fährt und vor allem wer öfter so ein bisschen Fahrrad fährt, sei kein Held. Und so oder so – er wolle einfach kein Held sein.

Nun könnte mir das egal sein. Gibt es eben unterschiedliche Auffassungen von Helden. Einer rettet die anderen und ein anderer eben immer wieder sich selbst. Held ist Held. Es gab nur einen Makel: Wir konnten das nicht gemeinsam schaffen und am Ende war nur einer von uns ein Held. Auch die Theorie „Ich habe das doch schon öfter gemacht und viel krasser. Das ist nichts Heldenhaftes für mich. Aber für dich ist es das wohl!“ ging nicht auf: Denn wo hat man schon mal gehört, dass die Prinzessin gesagt hätte: „Oh holder Jüngling, schöner Prinz von weit gereistem Land,
ich sah wie bös‘ der Drache den Tod unter Eurem Schwerte fand.
Jedoch – so konnte ein Täublein mir des Nächtens singen –
Seid Ihr Routinier in diesen heldenhaften Dingen:
Bereits tausend Drachen gabet Ihr die letzte Ruh!
Daher wähle ich Euren Knappen, denn der tat, zwar unroutiniert, aber dennoch seinen Teil dazu.“ Auch ist nicht überliefert, dass die Bewohner von Gotham City je Robin für seinen Heldenmut gefeiert hätten, während sie Batman nur höflich anlächelten, weil letzterer zwar höchst effektiv, aber einfach schon zum hundertsten Mal ihre Stadt von allem Bösen befreit hat.

Wie dem auch sei – wir fanden hier keine Einigung und ein Kompromiss ging nicht. Held oder nicht Held. Da gab es keine Grauzonen. Also erging ich mich – und später wir uns und dann wieder ich mich – in Gedankenspielen, die darum kreisten, warum ich so unbedingt Held sein wollte, obwohl das so wenig zu meinem Wesen passte. Und warum der Mountainbiker es auf gar keinen Fall wollte – obwohl ich fand, dass es zu seinem Wesen viel eher passen würde. Um es kurz zu fassen: Keiner von uns fand eine Antwort. Und also fuhren wir einfach weiter. Schweigend. Redend. Und hin und wieder beleuchteten wir die Heldenfrage von einem neuen Blickwinkel. Aber klären konnten wir sie nie.

Helden
Dann sind wir Helden. Nur diesen Tag. LaLaLa ...

Unser Weg führte uns also weiter östlich der A9, wo wir hätten westlich davon fahren sollen. Schlimmer war es aber auch nicht. Wichtig war, dass wir pünktlich zur Kaffeezeit wieder auf einem kulinarisch ausgebauten Track waren. Bei Kilometer 245 warteten Schirmchen und die allerersten richtigen Sonnenstrahlen des Tages auf uns. Im Gasthaus Zur Kanone in Tautenhain orderten wir Kakao, Saft, Apfelstrudel und Donauwelle. Wir lehnten uns zurück, schlossen die Augen und überließen uns ganz der Sonne, die unsere leicht angefrorenen Akkus wieder auflud. Der Zucker tat sein Übriges.

Wenn man einfach nur so dasaß und die Augen schloss, konnte man den alten Damen, die zu den Stammgästen zu zählen schienen, dabei zuhören, wie sie mit dem jungen Wirt flirteten. Danny dürften sie ihn nennen … und tippelten kichernd zu ihrem Rollator. Und da musste man durchaus aufpassen, dass man nicht versehentlich zum falschen Modell griff. Denn die Rollatoren parkten vor der Kanone wie die Harleys vor der Rockerkneipe.

Keiner von uns wollte aufstehen solange die Sonne noch bei uns saß. Andererseits war es auch schon nach vier und Leipzig noch 70 Kilometer weit weg. Also ging es weiter. Auf dem Rad ist Sonne ja auch nicht verkehrt. Insbesondere wenn es die erste des Tages ist. Und schließlich begann jetzt auch die Kür, wusste die Statistikabteilung zu melden.

Ganz unabhängig von den Meldungen der Statistikabteilung haben wir uns exakt zum richtigen Zeitpunkt von unseren Stühlen erhoben und die Tour fortgesetzt. Denn so erreichten wir den perfekten Ort zur perfekten Zeit.

Der Platz, an dem wir waren, als am zweiten Tag die Sonne langsam unterging, vereinte die Magie der gesamten Tour in sich. Ich habe hinterher immer wieder versucht, den Daheimgebliebenen zu beschreiben, wie die drei Tage waren. Man kann sagen, was man erlebt hat, wen man getroffen hat, wo man langgefahren ist. Aber einem Außenstehenden zu beschreiben, worum es eigentlich ging, erscheint mir fast unmöglich:

Die Möglichkeiten, die jeder Weg bot. Das Staunen, das jeder neue Ort hervorrief. Die tiefe Ruhe, die jeder gefahrene Kilometer stärker in mir verankerte. Der Zauber, der über all dem lag – all das erschütterte mich in meinen Grundfesten.

Da waren wir nun, irgendwo zwischen Nürnberg und Berlin. Und es war egal, wo wir waren. Wir hatten keine Zeit für eine Pause. Aber auch das war egal. Wir hatten Pläne und wir hatten schon viel erreicht. Aber all das war egal. Es zählte nur das Hier und Jetzt. Es zählte nur, dass die Sonne gerade unterging. Und dass dies ein schöner Ort war, um anzuhalten. Es zählte, dass wir hier waren und nirgends sonst. Es zählte, dass die ganze Welt aus nur wenigen Worten bestand: ich. du. hier. jetzt.

Es ist Jahre her, dass ich so bei mir war. Dass ich an keinem anderen Ort sein wollte als an dem, an dem ich mich gerade befand. Dass ich nichts anderes tun wollte als das, was ich gerade tat. Und ich erschrak. Weil dieses Gefühl niemals so lange her sein darf, dass man sich kaum noch daran erinnert.

So saßen wir da, in der Abendsonne, und blickten mal auf das Feld, mal in die Ferne. Wir machten Fotos, sprachen wenig miteinander. Jeder war für sich, schritt seine eigenen Wege ab, suchte seinen eigenen Standpunkt. Und es war ganz still.

Here-and-there
Magischer Augenblick: Denn es ist magisch, was das Auge erblickt.

Irgendwann, und nicht eher, schoben wir die Räder zurück auf den Track und folgten wieder der blauen Garmin-Linie. Sie führte uns ein Stück entlang des Elsterradwegs. Wir schrammten an Zeitz vorbei und fragten uns, was es war, wofür es bekannt war. Rüben? Irgendwas mit Optik? Nein, das hieß Zeiss und ist nicht mal eine Stadt. Es fiel keinem von uns beiden ein und die Stadt ist auch nicht groß genug als dass man viel Zeit gehabt hätte, während der Durchfahrt darüber nachzudenken. Zurück in vernetzteren Welten hilft Google: „Dom- und Residenzstadt Zeitz“ lautet der erste Eintrag.

Wie langweilig. Dabei ist Zeitz für etwas ganz anderes über alle Länder- und vor allem Zeitgrenzen hinaus berühmt: Zetti-Stadt Zeitz wäre eine angemessene Attributierung. Denn Zeitz hat uns die Knusperflocken gebracht, Bambina-Schokolade, Schlagersüßtafeln und Schokoladenplätzchen. Ohne Schlagersüßtafel keine Kindheit, fasst der Mountainbiker zusammen. Ohne Zetti, keine Welt, denke ich.

Und da waren wir nun. Vor den Toren von Zeitz – und hatten sowohl Kindheit als auch Welt vergessen. Zeitz sagte uns nichts. Oder zumindest fiel uns nicht mehr ein, was es uns hätte sagen sollen. Also radelten wir weiter.

Es ging auf in den Endspurt für den Tag. Unser Weg führte uns noch eine Weile fernab von Asphalt und wurde immer schmaler. Wir nutzten das allerletzte Licht des Tages, um uns für den bevorstehenden Nightride zu präparieren: Anziehen, Licht machen und vor allem noch mal etwas essen. Die Gummibärchen mit Colagel mussten her. Es waren noch 20 Kilometer bis Leipzig und die Energie fuhr auf Reserve.

Wir singletrailten also weiter Richtung Großstadt, deren Licht sich schon im Himmel spiegelte. Aber der Himmel kann sehr groß sein und die Stadt weiter entfernt als man denkt. Und so ein paar Gummibärchen tragen einen eben doch nicht bis zum Ziel, wenn der Hunger schon vorher astete. Wir redeten über die, die uns wichtig waren. Aber so etwas lenkt nur kurz ab, wenn das Magenmännchen Echo spielt.

Der Mountainbiker fokussierte sich mehr und mehr auf die Strecke. Selbst die Statistikabteilung hatte nichts mehr zu melden. Es gab nur noch die Kilometerangabe auf der jeweils letzten Ausschilderung und von da wurde runtergezählt. So einfach war das. Nach Pflicht kommt Kür. Und nach Kür Countdown. Oder so ähnlich.

Wir hielten noch einmal an, zwölf Kilometer vor dem Ziel. Der einzige Rastplatz, der nach rein pragmatischen Gesichtspunkten ausgesucht wurde: Es ging einfach nicht mehr. Wir saßen kurz vor der Autobahnunterführung auf zwei Betonblöcken, sahen auf die Lichter, von denen wir gekommen sind und versuchten zu erahnen, wo die Lichter begannen, zu denen wir wollten. Ich unternahm noch einen letzten Versuch, dem Mountainbiker einen Energieriegel anzudrehen, aber er war tapfer.

Also musste es ohne Energie weitergehen. Wir fuhren und fuhren. Die Zahlen auf den Hinweisschildern wurden kleiner und kleiner. Aber es war nichts von „Stadt“ zu sehen. Es sah weder nach Vororten aus noch danach als würden wir gleich im Stadtzentrum sein – wie die Schilder suggerierten. Der Mountainbiker klang nicht froh. Und ich sorgte mich: Es ist nicht gut, sich so leer zu fahren.

Ich suchte die große Stadt auf meinem kleinen Garmin, um irgendetwas Aufbauendes sagen zu können. So etwas wie, dass es wirklich nicht mehr weit ist. Und hier fand ich dann auch die Erklärung, warum wir fuhren und fuhren, wir der Stadt aber nicht näher zu kommen schienen: Die Stadt hat die Form eines Herzens.

Und wir fuhren genau zwischen den beiden Herzkammern direkt zum Zentrum. Wenn wir also das erste Mal die Stadt sehen würden, wären wir bereits mittendrin. Denn die Stadt war schon lange rechts und links von uns. Und wir im Park dazwischen. Welch‘ schöne Einfahrt – wären wir empfänglich gewesen für so etwas. Aber die Augen suchten nur die Stadt. Und als sich diese endlich vor uns auftat, fielen wir völlig erschöpft in die erste Pastabude, die irgendwo an der Straße stand.

Und schon beim Eintreten waren wir instant wieder versöhnt mit dieser Stadt: Auf uns wartete ein italienisches Wohnzimmer mit so viel Leben, einer unglaublich liebevollen Einrichtung – und gleich mit Sofort-Bruscetta für die ausgehungerten Radfahrer. Und es schmeckte so guuuut. Nach der Vorspeisenpizza gönnten wir uns Pasta; und zwar die allerbeste Pasta, die man sich an so einem Tag nur vorstellen kann! Es war eng und es war laut und wir strahlten über beide Ohren als die Kellnerin mit unserem Essen ankam. Und es schmeckte himmlisch! Die Pasta war so überragend gut, dass wir uns einig waren, dass sie einfach selbst gemacht sein musste. Also schaufelten wir, was ging. Bei diesen Verheißungen wollte ich allerdings nicht denselben Fehler begehen wie am Vorabend und scannte fix die Dessertkarte, um meine kulinarischen Kapazitäten entsprechend einzuteilen.

Tiramisu! Nach Bruscetta, Pizza und Pasta war das schon wieder alles eine ganz knappe Geschichte mit dem Dessert, aber dann würden wir uns eben eins teilen. Nur nicht wieder ohne Dessert ins Bett! Aber da haben wir die Pläne ohne die Küche gemacht. Das Tiramisu hatten die anderen Gäste schon weggenascht; es bliebe noch Panna Cotta. Aber Panna Cotta ist nicht Tiramisu und wenn ich ganz ehrlich war: Keines von beiden hätte noch reingepasst.

Teil eins der Abendgestaltung war damit abgehakt. Jetzt bedürfte es nur noch eines Bettes und alles war gut. Wir steuerten drei Logen an. In die erste fielen wir direkt vom Restaurant aus rein. Das war aber auch schon der einzige sichtbare Vorteil. Zum Hostel ginge es über eine laute, bunte Bar. Ich wurde als Spacemännchen angestaunt. Ich blickte an mir runter: Ach ja, die weißen Überschuhe ... Ich war zu müde, um in das Gespräch näher einzusteigen. Nickte nur und wir gingen. Zimmer gab es zum Glück keine.

Der nächste Versuch war gleich um die Ecke. Aber die Herbergseltern schliefen schon den Schlaf der Gerechten und unser Klingeln blieb unbeantwortet. Den entscheidenden Tipp gab dann ein Taxifahrer. Die kennen sich sowieso am besten aus. Und so hatten wir bei Nummer drei Glück und alles was wir brauchten: Ein Bett; einen Platz für die Räder – neben dem Bett; einen Platz für das Garmin – an der Ladestation an der Rezeption und vor allem: Das Gefühl angekommen zu sein.

Mit einer gewissen vorfreudigen Hoffnung hielt ich kurz inne, bevor ich die Badezimmertür einen Spalt breit öffnete. Der Mountainbiker hatte uns schon treffsicher zum besten Restaurant der gesamten Stadt geführt. Ich traute ihm heute alles zu: Wenn das Zimmer jetzt noch eine Badewanne besäße, wäre er mein Held. Ob er wollte oder nicht. Aber das Hotel ersparte uns diesen Streit. Keine Badewanne. Kein Held. Alle glücklich.

Einen kleinen Aufreger gab es dann doch noch. Frisch geduscht, erschöpft und mit der Welt fertig trat ich aus dem Bad als der Mitbewohner gleich hiobte, was er gerade aus dem Fernsehen erfahren hatte: Für den morgigen Tag gab es Unwetterwarnungen. Windböen bis zu 120 Kilometer pro Stunde waren prophezeit. Das ging natürlich gar nicht auf der 200-Kilometer-Ebene, die uns bevorstand. Kurz bevor mich der Mut verließ für den nächsten und letzten Tag entschied ich, dass ich es so mache, wie immer: Vorhersagen ignorieren, schlafen gehen und dann einfach losfahren. Es kommt sowieso immer anders als man denkt.

Und der Mountainbiker muss noch lernen, dass man mich mit blauäugigem Optimismus motiviert und nicht mit Fakten.

178 Kilometer | 1.400 Höhenmeter

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