Montag, 1. Oktober 2012

Betriebsausflug.

Die Geschichte beginnt im Sommer. Es war der Sommer, den ich mehr Zeit auf dem Fahrrad verbrachte als zu Hause. Es war mein Draußensommer. Es war mein Sommer der Überraschungen.

Was genau der Auslöser für diese neu entdeckte Fahrradwut war, weiß ich nicht. Aber es kamen viele Dinge zusammen. Bei zweien bin ich mir sicher: die Inspiration und der Druck. Der Druck kam von einem Präsidenten und war wenig gering. Es gab Tage, an denen glaubte ich zusammenzubrechen, wenn ich nicht auf das Rad stieg. Das Rad war mein Ventil. Mein Balancehalter. Und den hatte ich bitternötig, wollte ich nicht vollständig aus der Bahn geworfen werden.

Die Inspiration kam von Andreas. Von seinen Geschichten, seinen Bildern und von seinem Lachen in den Augen. Ich sehnte mich nach der Ruhe, die er irgendwo da draußen zu finden schien. Nach dem Abenteuer und dem Ankommen. In jederlei Hinsicht.

Um Anzukommen, fuhr ich los. Für mich. Für meine Ruhe und irgendwann für ein Versprechen. Er glaubte, dass ich auch die ganz großen Strecken schaffen kann. Und ich wollte so sehr, dass er Recht behielt. Also versprach ich, dass ich trainieren wolle und am Ende des Sommers 150 Kilometer an einem Tag mit ihm fahren würde - ohne zu jammern.

Es ist Herbst geworden. Und aus den 150 Kilometern sind 500 geworden. 3 Tage. 4.000 Höhenmeter. Und der schönste Sommer seit vielen Jahren.

Tag 1: So tedious is this day
As is the night before some festival
To an impatient child that hath new robes
And may not wear them.

Unser Betriebsausflug startete nicht nach Plan und die Stimmung war verärgert. Auf meiner Seite. Für mich war und blieb es die größte Tour des Sommers. Ich brauchte die Sicherheit der Zeit: Viel Zeit auf der Strecke. Aber die Losfahrzeit verschob sich immer weiter nach hinten. Von halb sechs auf halb acht. Dann auf um acht. Später auf neun und halb zehn. Unbeeindruckt von den damit verbundenen neuen schlaftechnischen Möglichkeiten, war ich fünf Uhr morgens wach. Knallwach. Und ich hatte sehr lange Zeit zu überlegen, ob ich nicht einfach rüberginge und die Schlafmütze wecken könne. Das hätte zumindest bei einem Teil der Reisegruppe die Stimmung schlagartig wieder gehoben. Allerdings hätten wir den anderen Teil der Reisegruppe womöglich im stimmungstiefen Keller verloren. Erschwerend kam hinzu, dass der Mountainschläfer mir vorsorglich nicht gesagt hatte, in welchem Zimmer er schlief. Tja, Fuchs ist man; Fuchs kann man nicht lernen.

Nachdem ich die möglichen Möglichkeiten von allen Seiten durchleuchtet hatte, war es sechs und ich keinen Schritt weiter. Nun, wenn ich den Mountainbiker nicht wecken konnte, so konnte ich doch den Piraten aus dem Bett klingeln und ihn an meiner Insomnia teilhaben lassen. Er päppelte mich eine dreiviertel Stunde lang auf – und es war viertel vor sieben. Eine angemessene Zeit, um ein verfrühtes Aufstehen vor sich selbst zu rechtfertigen. Duschen, Sachen packen, Fahrrad checken, Sachen noch einmal umpacken, Wetter checken und Sachen wieder aus- und noch mal einpacken. Herrje – ich war auch schon einmal effektiver. Punkt 7:45 Uhr dürfte ich endlich meines Amtes walten und die Reisegruppe wachklingeln.

Fix ein zähes Frühstück, zähes Fertigmachen, zähes Ausrüstung packen – und schwupps, standen wir anderthalb Stunden später schon im Nieselregen vor den Augen aller abreisewilligen Busfahrtskollegen bereit zum Losrollern. Noch ein paar nette Worte von links und nach rechts und endlich, endlich, endlich ging es los!

Der Weg führte uns nach Norden aus Nürnberg heraus und nach tausend Metern zum ersten Zwischenstopp: Der Cannondale-Lenker wollte nicht in die vorgesehene Richtung, sondern wackelte recht eigenwillig in seinem Nest hin und her. Ein bisschen hier und da geschraubt und schon ging es weiter. Dieses Mal zirka 1.500 Meter. Der Lenker hatte eigene Pläne. So start-stoppten wir uns eine Stunde lang aus der Stadt. Die Stimmung stieg im Nieselregen und erste Sorgen machten sich breit, man müsse sich womöglich am ersten Tag des Jahreshighlights im Zug geschlagen geben. Wegen eines blöden Lenkers. Aber Übung macht den Meister und der Meister schraubte mit viel Fingerspitzengefühl einen Kompromiss: Es gab eine Einstellung, bei der der Vorbau gerade so kein Spiel mehr hatte und man den Lenker gerade so noch drehen konnte. Leichtgängig ist etwas anderes. Aber ich war an einem Punkt, wo ich auch mit Laufrad weitergefahren wäre – nur nicht aufgeben so kurz vor dem Ziel! Obwohl „kurz“ nun auch wieder relativ war.

Der Weg schlängelte sich weiter gen Norden – schotterig durch den Stadtpark, auf kleinen Landstraßen, mittendurch durch deutschen Mischwald. Die ersten dunkelrot eingefärbten Bäume wurden gesichtet und es machte sich Vorfreude auf den goldenen Herbst breit. Das Tempo war hervorragend und übertraf meine kühnsten Erwartungen: Wir rauschten ohne Anstrengung nebeneinander her. Nun ja, nicht ganz ohne Anstrengung. Das Mountainbike klagte ob zweier Hugos, denen es am Vorabend nicht widerstehen konnte und welche es sich irgendwann in der Nacht in den Beinen bequem gemacht hatten. Mit schweren Beinen fährt es sich unschön die hügelige Gegend hinauf. Was aber nicht bedeutete, dass ich nicht trotzdem immer als letztes oben ankam. Vielleicht waren die Hugos auch einfach meine Freunde: Stellten sie doch sicher, dass ich immer schön motiviert blieb.

EP
Mountainbiker hier. Fische da unten irgendwo. Alle da.

In Erinnerung blieb mir Gößweinstein, ein Tausendseelen-Nest, das uns mit andächtiger Prozession empfing. Wann sieht man schon noch einmal so viel Religiosität – mit Blasinstrumenten in der Hand? Wo die Gemeinde hin pilgerte, ließ sich nach der nächsten Kurve zweifelsfrei klären: Rechts von uns ragte ein monumentales Gotteshaus in den Himmel. Ungezählte Tausende, so gibt die Webseite Auskunft, kommen alljährlich her, um hier neue Kraft und seelische Erbauung zu finden. Das leuchtet ein. Lagen doch die ersten 500 Höhenmeter schon hinter uns und noch dreimal so viele vor uns bevor der Tag enden sollte. Auch ich brauchte Kraft und Erbauung.

Aber wir zögerten nicht lange, sondern durchquerten den heiligen Ort fix. So fanden wir uns bald wieder irgendwo im nirgendwo. Mit der Schönheit hier konnte sowieso keine Basilika der Welt mithalten. Wir Stadtkinder sind den weiten Blick nicht gewohnt. Die wilden Farben. Die erhabenen Erhebungen ringsum. Und vor allem und immer wieder: die Stille. Selbst auf den Landstraßen war es erstaunlich ruhig und so schloss gerade Herr K die Franken in sein Radlerherz: Denn wer mit seinem Auto zu Hause bleibt, nervt nicht auf dem Asphalt.

Draussen
Egal, wo wir fuhren: Viele Autos gab es da jedenfalls nicht.

Passend zum Setting – Kirchen, Dörfer, Sonne, Samstag – fuhren wir auch an der ein oder anderen Hochzeit vorbei. In Oberailsfeld stellten sich die fein gekleideten Gäste gerade zwischen roten Herzluftballons zum Spalier für das frisch vermählte Liebesglück auf. Und während ich meinem Gedanken nachhing, wann ich eigentlich aufgehört habe, Hochzeitspaare im Urlaub zu fotografieren und wieso, fragte der Mountainbiker sich, was da eigentlich gefeiert wird. Beiden Gedanken jedoch, schnittest du, Parze, die Fäden zugleich – unter Zuhilfenahme eines Handyklingelns. 13:37 Uhr – das verhieß nichts Gutes. Wir hatten in Nürnberg 400 Busreisende zurückgelassen. Wenn etwas mit deren Abfahrt schief ging, würden sie zwischen 13 und 14 Uhr bei uns aufschlagen. Und so war es dann auch. Ein Bus kam nicht. 55 Kilometer von Nürnberg entfernt setzten wir mit einem von fünf Empfangsbalken alle Hebel in Bewegung und telefonierten so lange bis die Abfahrt gesichert und die Gemüter beruhigt waren.

Und schon ging es weiter. Je länger der Vormittag rum war, desto mehr erwachte der Mountainbiker. Ich lernte, dass die ersten 100 Kilometer die eigentlich schweren seien. Die Pflicht. Alles danach sei Kür. Und dann erst würde auch der Spaß losgehen. Und noch jemand erwachte zum Nachmittag hin: Die Statistikabteilung latschte geschlossen ins Büro und nahm ihren Dienst auf. Es war meine erste Begegnung mit diesem verrückten Haufen. Und ich muss sagen, mein erster Eindruck war, dass sie wirklich wenig von ihrem Fach verstehen. Es ging schon mal damit los, dass sie bei Kilometer 76 behaupteten, man sei ja nun schon fast bei 80 Kilometern, was nichts anderes heiße als dass man nun die 100 geschafft habe. Ich sah abwechselnd von meinem Tacho auf die Statistikabteilung und fragte mich, ob ich eigentlich über genügend Entscheidungsbefugnis verfügte, um eine ganze Abteilung zu entlassen. Ich befürchtete, die Antwort lautete ‚nein‘ und fuhr tapfer weiter.

Zumindest erkannte ich sehr schnell, was Herr K meinte, wenn er immer sagte, auf seinen Touren muss er sich ständig auf die Strecke konzentrieren. Da bleibe gar keine Zeit, um an irgendetwas anderes zu denken. Seine Statistikabteilung war „on fire“: Sie fütterte ihn – und er mich – minütlich mit neuen Informationen. Dabei wurde die Strecke je nach Gemüts- und Hügellage immer kürzer („Wir schaffen heute höchstens 140 Kilometer; wenn nicht sogar noch weniger.“) oder länger („Wir müssen auf jeden Fall die 150 Kilometer anpeilen. Besser noch 160.“) Zwischen beiden Aussagen muss nicht mehr als ein kleiner Hügel gelegen haben. Ich änderte meinen Plan während der ganzen Zeit nicht einmal. Nachdem morgens in Nürnberg feststand, dass die 2-Tagesreise bereits passé war, wollte ich am ersten Tag 150 Kilometer fahren. Und das blieb auch so. Das sagte ich der Statistikabteilung aber nicht so direkt. Denn bei allen fragwürdigen Berechnungen – eines konnte man ihr nicht absprechen: Sie machte, dass mein Mountainbiker endgültig aufwachte und freudestrahlend von Pflicht auf Kür wechselte.

Holzbruecke
Kür? Auf jeden Fall kann der Mountainbiker einiges am Rad! Das Caad wurde hier übrigens rübergeSCHOBEN.

Für die Kür hatte ich mir dann auch etwas ganz Besonderes ausgedacht: Das sah schon bei der Planung auf der Karte verkehrt aus. Der Radweg, der uns bei Kilometer 112 empfing, kürzte sich „MTB6“ ab. War ich bisher tapfer auf allen Unebenheiten und navigierte das Caad-8 zwischen Stock, Stein, Sand und Dreck, blickte ich plötzlich auf eine gefühlt 40-Grad-steile Wand mit messerscharfen Felsbrocken und riesigen mammutbaumartigen, meterhoch in die Luft ragenden Verwurzelungen. Ich tat das einzig sinnvolle: Ich stieg sofort ab. Und fluchte. Nur ganz leise natürlich. Denn die vereinbarte Klagemauer war noch ganze 38 Kilometer weit entfernt. Aber hier konnte ich sie schon fata-morganisch klar vor mir sehen.

Während ich schob und die Schritte zählte, meuterten Rücken und Waden. Und ich fragte mich ernsthaft, wie Herr K nur immer wieder auf so abwegige Ideen kommt, wie die, dass mir ein Mountainbike gut gefallen würde. Ein Fahrrad, das man bergauf schiebt! Ich war überhaupt nicht dafür gemacht. Mach immer, was dein Herz dir sagt, so heißt es. Dort im Wald auf MTB6 hätte das bedeutet, einfach loszulassen. Und sich auf einen der Steine zu setzen bis bessere Zeiten kommen. Aber wenigstens einmal zahlt es sich aus, dass ich eh zu oft darauf höre, was der Kopf mir sagt: Ich schob weiter. Und auch jeder noch so schöne Mountainbiketrail ist irgendwann einmal zu Ende und so konnte ich zumindest die letzten Höhenmeter auf das „Dach der Tour“ hochradeln: 707 Höhenmeter und es war mittlerweile dunkel.

Wir hatten noch einmal angehalten, um uns dick einzupacken. Aber es half nur mäßig. Wir waren oben, es ging bergab, die Sonne war weg und wir müde. Ich schlotterte auf dem Weg ins Tal. Die Lichter von Naila schienen ewig nicht näher zu kommen. Ich musste unbedingt am Mountainbike dran bleiben. Denn wo das Mountainbike war, da war Licht. Gleichzeitig verabschiedete sich die Stabilität des Lenkers auch wieder. Schnell fahren ging. Bremsen war die Herausforderung: Beherzt reingreifen führte zu einem Gefühl der Schwerelosigkeit; fühlte es sich doch so an als könnte ich jederzeit den Lenker in der Hand halten – ohne Rad dran.

Aber irgendwie waren wir dann plötzlich doch da. Der Rest ist schnell erzählt: Zwei große Teller Spaghetti und kein (!) Platz mehr für Dessert. Das war sogar für mich eine Premiere. Als Unterkunft fanden wir ein nettes Kellerappartement. Kurzer Blick ins Bad: Keine Badewanne. Schade.

Zumindest hatte ich dank „Ladies first“ die Duschauslosung gewonnen. Aber die Lady kam nicht aus den Puschen. Und das im wahrsten Wortsinne: Ich zerrte, rüttelte und schüttelte an den Schuhen – es half alles nichts. Der rechte steckte fest. Ich gab wegen widriger Umstände meinen ersten Platz beim Duschen auf, aber der Mountainbiker hat ein großes Herz und konnte das Elend nicht mit ansehen: Er holte Werkzeug und Kettenfett, Finger wurden eingequetscht und Füße verdreht und immer wieder gezogen und gedrückt. Nichts. Wenn es nicht so verdammt absurd gewesen wäre – ich hätt heulen können. Ich war müde, erschöpft, erfroren und wollte nur duschen und ins Bett fallen – aber nicht mit Schuh! Ich erinnerte mich an die Verkaufsberatung des Fachpersonals: „Machen Sie den ruhig richtig fest zu. Da passiert nichts. Dafür ist das ja da.“ Ich hätte dem Verkäufer gern mit meinem beschuhten Fuß gegen das Schienbein getreten.

Irgendwann – mit viel Gewalt – ging der Schuh doch vom Fuß. Und der Tag nahm das Ende, das er verdient hat: Unter einer heißen Dusche. Barfuß.

148 Kilometer | 2.067 Höhenmeter

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