Von Leipzig nach Berlin.
Tag 3: Ich habe bis zur völligen Erschöpfung gekämpft und
mich von der Euphorie tragen lassen.
Ich habe bis auf die Knochen gefroren und
Blut und Wasser geschwitzt.
Der dritte Tag begann mit noch zuen Augen. Ich war schon wach, aber noch nicht bereit, den Tag zu begrüßen. Der Wecker auch nicht. Ganz anders der Mountainbiker: „Guten Morgen. Siehst du? Blauer Himmel! Wollen wir schon losfahren? Solange es noch schön ist …“
Die Aussicht auf Sonne, mehr Zeit auf der Strecke und vielleicht sogar Muße für ein Mittagsschläfchen im Feld überzeugte mich. Ich fuhr die Systeme hoch – gerade so weit, dass ich es schlaftrunken bis ins Bad und von dort zum Frühstücksbuffet schaffte. Und das konnte sich sehen lassen: Wir aßen mit großem Appetit und waren auch nicht kleinlich bei der Ausweitung der Gastfreundschaft auf die Mitnehmbrote.
Es gibt auch am dritten Tag noch genügend Gründe, aufzustehen und wieder aufs Rad zu klettern.
Halb neun standen wir auf der Strecke. Der Himmel sah noch immer nicht nach Unwetter aus und wir fuhren gut gelaunt in den letzten Tag. Auch die Stadtfahrt im morgendlichen Berufsverkehr war weit weniger anstrengend als befürchtet: In Nullkommanichts waren wir auf Stadtparkwegen und cruisten so unbehelligt von hupenden, hektischen Autofahrern durch Leipzig. Und es dauerte gar nicht lange, da zeigte uns ein Radschild an, wo genau wir uns befanden: drei Icons – Sonne, Rad und Hügel – und ein Name – Radweg Berlin Leipzig. Juchhu! Wir strahlten und entschieden uns gleich, dem Garmin eine Ruhepause zu gönnen und einfach den neuen Schildern zu folgen. Schließlich wussten wir beide, dass die Radwege in Deutschland, zumal die großen, in der Regel die schönste Option waren.
Also folgten wir dem schönen Weg und fuhren – nach Süden. Das kam sogar mir Orientierungsanalphabeten merkwürdig vor. Da die Sonne-Mond-Sterne-Schilder noch immer sagten, wir seien richtig, zweifelte ich die Radwegeplanung von Bund und Land an. Viele Wege führen nach Rom und warum nicht den Radweg in Schleifen planen anstatt direkt. Nachvollziehbar erschien es mir. Also nutzte ich unseren Stopp an der Parthe, einem Miniflüsschen im beschaulichen Taucha, und tippte „Berlin Leipzig Radweg“ ins Mobilfunkinternet ein. Und tatsächlich: Es spuckte irgendetwas von 250 Kilometern Gesamtlänge aus. Hilfesuchend sah ich zur Statistikabteilung rüber. Vereinbart waren 200 gewesen. Nun lassen die Statistiker so eine Abweichung natürlich nicht auf sich sitzen. Und wir schmissen sofort das Garmin wieder an.
Ich war in Gedanken schon bei der Zieleinfahrt und kletterte daher gerade aufs Caad als mir der Mountainbiker noch das Tageshighlight zeigte: Vor der Brücke planschte ein Biber gegen den Strom und wartete ungeduldig, dass wir endlich weitergingen. Er hatte ja noch was vor und musste die Brücke, auf der wir pausierten, passieren. Aber da musste er noch einen Moment in Warteposition paddeln: Ich hatte ja noch nie einen echten Biber gesehen! Ich war ganz hin und weg. So ein schönes Tier! Und er sah genauso aus wie der Biber aus der Zahnpastawerbung! Obwohl das wiederum schon etwas erschreckend war: Meine Bildung hab ich scheinbar aus dem Fernsehen. Und nur von daher kannte ich Biber. Bisher.
Nach Tausa ging es endlich wieder Richtung Norden und wir kamen schnell zurück auf die blaue Garminroute. Ich nutzte die Zeit und überlegte zum x-ten Male auf dieser Tour, wie ich eigentlich durchs Leben komme. Dass ich noch nie einen echten Biber gesehen hatte, bedeutete ja nicht, dass ich noch nie einem begegnet war. Hätte der Mountainbiker mir den kleinen Schwimmer nicht gezeigt, wäre der Dentagard-Biber der Neunziger noch immer mein Master-Biber. Ich sehe die Dinge einfach nicht.
Wie oft hat der Mountainbiker gefragt: Hast du gerade den Vogel gesehen? Die Villa? Den Hirsch? Den Baum? Das Spaceshuttle? Den winkenden Bären mit Bergsteigerausrüstung und Sonnenbrille? Und natürlich hatte ich nichts von all dem gesehen.
Wir sind doch immer die selbe Strecke gefahren! Aber während der Mountainbiker die ganze Welt wahrgenommen hat und zu jedem Zeitpunkt wusste, was in den 360 Grad um ihn herum vorging, hatte ich nur einen sehr eingeschränkten Lichtkegel. Ich sah das Werbeschild für die Eierlikörtorte. An den rot beapfelten Bäumen jedoch fuhr ich vorbei. Ich sah auch in der Ferne die alte Frau im schwarzen Rock. Die Zwillingsfamilie mit Zwillingshund, die an uns vorbei ging, sah ich nicht. Die hatten ja auch kein Kuchenschild um den Hals hängen, sagt der Mountainbiker. Vielleicht waren sie einfach nicht wichtig, sage ich. Verdammt – denke ich.
Wieder etwas, das nur der Mountainbiker sah und ich nicht: Hindrappierter Kürbis.
In der Zwischenzeit hatte uns das Garmin auch wieder auf den Berlin-Leipzig-Radweg navigiert, welcher sich nun auch so verhielt, wie man das erwarten würde: Er fuhr gen Norden. Also folgten wir. Obwohl noch 150 Kilometer vor uns lagen, begann der Mountainbiker bereits, die Endstrecke umzuplanen: Wir befanden uns nämlich schon in seiner „Hood“: All die Wege; all die Dörfer; all die Trails; alles, was vor uns lag – kannte er schon von vielen früheren Touren. Und die von mir an Rechnerkarten geplante Einfahrtschneise war nicht dass, was unser Drei-Tages-Ausflug als Abschluss verdient hatte – so der Radroutinier.
Es ging schon mal damit los, dass ich das Tourende am S-Bahnhof Marienfelde geplant hatte. Nach 500 Kilometern in die S-Bahn steigen und das letzte Stück mit AB-Ticket nach Hause fahren, erschien mir bei der Schreibtisch-Tourenplanung völlig legitim. Soviel Weicheierei schloss der Mountainbiker allerdings schon beim ersten Blick auf das Kartenmaterial komplett aus. Und ich muss zugeben, nach drei Tagen dort draußen gab ich ihm Recht.
Der zweite Fehler war der Verkehr. Es gäbe bessere Strecken, um nach Berlin reinzufahren als über den Marienfelder Damm ohne Radwege. Mir war’s recht. Verfehlen konnten wir diese Stadt ja nicht.
Aber erst mal führten unsere beiden Wege uns noch die selbe Strecke lang: quer durch die Dübener Heide. Und diese war wieder einmal wie geschaffen für einen Mountainbike-Rennradausflug: Asphalt wechselte sich ab mit mehr oder minder festen Waldwegen. Den minderen davon sei mit folgendem überlieferten Dialog Rechnung getragen:
Szene: Deutscher Wald. Mit viel Blattwerk auf den holprigen, aber im Wesentlichen festen Waldwegen. Ein Mountainbiker, Eispickel, und eine Rennradlerin, Frau Susi K, heizen durch den Wald, dass das herbstliche Blattwerk hinter ihren Rädern wie Schneeflocken aufwirbelt und die Hasen nur so rechts und links davonstieben. Rechts plötzlich ein Abzweig auf einen Singletrail mit noch mehr Blattwerk, Kurven und hier und da Waldzeug quer über dem Weg.
EP: ... Oh, da rechts sah es aber auch gut aus!
FSK: Das Garmin sagt, dass wir da hätten rechts fahren müssen. [Sie kehren um.] Da liegt ja ein Baum quer über dem Weg!!
EP: Toll, da kann man ja drüberfahren!
FSK: Wer hat denn hier einen Baum hingelegt? So was Blödes … [hebt das Rennrad an und trägt es drüber. Vorhang!]
Wenn der Abzweig rechts mal "gut aussieht", muss es sich nicht immer - wie hier - um Asphalt handeln.
Kleine Anekdote am Rande: Dieser Dialog überlebte nur dank des exzellenten Gedächtnisses des Mountainbikers. Mein eigenes Erinnerungsvermögen hatte diesen zweiten Mountainbiketrail bereits fast vollständig gelöscht. Ich finde, das sagt viel über das Trauma aus, das ich noch von MTB6 hatte.
Nach der Dübener Heide wechselten wir für ein paar Kilometer auf den Elberadweg, der wieder was für die Rennradseele war: schön asphaltiert ging es über Felder, wo mächtig Ausflugsradlerbetrieb herrschte. Entgegen der Unwetterwarnung lachte die Sonne nämlich schon den ganzen Tag ihr schönstes Herbstlachen und das sorgte für gute Stimmung auf einem der ganz großen Fernradwege. Wir nahmen sogar Bierbestellungen beim Überholen an. Würden wir doch vor allen anderen am Rastpunkt ankommen.
Das taten wir auch, nur gab es dort kein Bier: Wir hielten an der kleinen, aus Feldstein gemauerten Radfahrerkirche von Priesitz. Der Mountainbiker war schon einmal hier, ließ mich an seinen Erinnerungen teilhaben und versuchte, meine Erinnerungen an die Fotos, die er mir von hier gezeigt hatte, aufzufrischen. Vergeblich.
Eine Radfahrerkirche richtet sich vor allem an Radfahrer, die zum Besuch der Kirche und zur Andacht aufgefordert werden sollen. Allein – die Kirche war durch Gitter und Schloss vor Kirchgängern abgesichert. Man konnte zwar hindurch schauen und sich auch hindurch hangeln, um eine Gabe in das Spendentöpfchen zu werfen. Rein kam man jedoch nicht. Bloß gut, dass ich Agnostiker bin. Als gläubiger Christ wäre ich womöglich enttäuscht gewesen.
Als unsere bierbestellenden Freunde auf den Kirchhof pedalten, waren wir schon wieder abfahrbereit und winkten auf ein baldiges Wiedersehen. Der nächste Stopp war nur einen Katzensprung entfernt: In Pretzsch wartete unsere Elbfähre. Genaugenommen warteten wir erst einmal …
Und hier ein Wiedererkennen: An diesem Ort war ich schon einmal! Auf dieser Bank habe ich schon einmal gewartet! Solch erhellende geografische Momente sind bei mir ja nun wirklich selten. Gestärkt von so gewonnenem Selbstvertrauen machte ich mich sogleich an den erstmaligen Versuch, meinen Lenker mal alleine festzuschrauben. Man hat ja nicht immer einen Mountainbiker dabei. Und jener mahnte bei jedem der gefühlt 512 Vorbauschraubvorgängen, dass ich das ja eigentlich selber machen müsste, sonst würde ich das nie lernen. So hatte ihm das auch seine Schnegge beigebracht, als er noch schrauben ließ. Der Schüler hat schnell gelernt. Und irgendwo tief drinnen wusste ich, dass er Recht hatte.
Endlich kamen auf der Gegenseite zwei Autos, sodass die Fähre gar nicht anders konnte als zu uns rüber zu schippern. Wir waren die einzigen und der Fährmann verwickelte uns in ein fährmanntypisches Kurzgespräch („Wo wollt ihr heute noch hin? Ah, bis Berlin. Na, das schafft ihr locker. Hier sind ja laufend Radfahrer, die bis nach Berlin fahren.“ „Aha?!“) Und schon waren wir am Nordufer der Elbe.
Fähre mit hohem Wiedererkennungswert: Da freut sich Frau K.
Es muss so um die Mittagszeit gewesen sein, denn der Mountainbiker versprach uns ein richtiges Mittagessen in dem „Siehst du das Dach da hinten am Horizont?“-Haus. Au ja, fein! Bisher hatten wir immer draußen gepicknickt – von den Kuchenpausen mal abgesehen. Und so schön das war – ein richtig großer Teller Nudeln klang hervorragend!
Mit dieser kulinarischen Aussicht begann mein Magenmännchen sofort mit dem Auskehren. Und als es gerade fertig war, sich nach getaner Arbeit genüsslich streckte und lässig auf den Besen gelehnt auf die nun bald folgende warme Mittagsration wartete, zeigte der Mountainbiker in den Himmel: Ob ich die schwarzen Wolken sehe und dass es vielleicht doch besser wäre, weiterzufahren solange es noch nicht regnete. Essen würden wir ja dann können, wenn es anfängt zu regnen. Was soll ich sagen – es fing natürlich nie an zu regnen.
Das Magenmännchen fühlte sich über den Tisch gezogen, machte Tapsen an die Decke und sandte Verhungerungssignale ans Hirn. Und da ich bei so etwas nicht an mich halten kann und daher sogleich für die Reisegruppe übersetzte: „Ich kann nicht mehr!“, steuerten wir den erstbesten windstillen Bio-Esstisch an: eine leicht abschüssige Mini-Wiese direkt an der Straße. Wir setzten uns in Blickrichtung des kleinen Flusses irgendwo am Ende des Grüns, das Grau des Asphalts im Rücken.
Egal, was man in so einem Moment aus dem Rucksack kramt – wenn man den ganzen Tag auf dem Rad und an der frischen Luft ist, schmeckt alles so als würde man es das erste Mal probieren. Und so schlemmten wir wie die Könige und ich war glücklich und zufrieden. Und noch etwas schmeckt da draußen besser als überall sonst: Der Mountainbiker reichte den letzten der drei am ersten Tag stibitzten Äpfel – aufgeschnitten und entkernt. Ich hatte ganz vergessen, nach wie vielen guten Erinnerungen ein Apfel schmeckt, wenn man ihn aufgeschnitten bekommt.
Nachdem sich ein paar Regentropfen zu uns verirrt hatten, übernahm die Sonne wieder das Regiment und schien uns den Weg heim. Wir kamen gut voran auf den überwiegend asphaltierten Radwegen. Es ging noch ein Stück den Elbradweg, dann kamen wir auf den Elsterradweg. Der Mountainbiker zählte durch, dass er schon auf fast allen Flussradwegen in Deutschland unterwegs war. Da war ich noch weit entfernt von, aber zumindest erinnerte ich mich an die Elster: Vor genau vier Wochen stand ich schon einmal mit dem Rad an der Abzweigung hinter Gorsdorf. Damals war ich zu erschöpft, um dem Radweg weiter zu folgen und blieb auf der Straße, die mich am schnellsten zum nächsten Bahnhof brachte.
Dieses Mal fuhren wir bei Kilometer 400 nach links und ich sah, was mir damals entging. Vielleicht, so dachte ich für einen Moment, stimmte mein Plan vom Leben doch nicht: Dass das Leben aus lauter Kreuzungen besteht, an denen man sich für einen Weg entscheiden muss; und man mit jeder Entscheidung zwar zu wieder neuen Kreuzungen gelangt, aber niemals dorthin zurückkehrt, wo man hergekommen ist. Vielleicht, so dachte ich, ist das Leben doch weniger linear und man kann zu den Kreuzungen zurückkehren, an denen man schon einmal stand.
Aber man selbst ist dann ein anderer. Und damit ist auch die Kreuzung eine andere. Ich seufzte.
Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both.
And be one traveler, long I stood | And looked down one as far as I could | To where it bent in the undergrowth.
Wir folgten weiter der Orientierung des Nicht-Orientierungslosen: Listerfehrda, Seyda, Seehausen, Blönsdorf, Kaltenborn, Malterhausen. Und das Garmin zählte nur noch die Kilometer mit. Die Statistikabteilung zählte auch, aber anders als die anderen Tage. Rückwärtsgewandter. Es ging nicht mehr darum, wie viel noch vor uns lag – Zeit oder Kilometer. Sondern wie viel hinter uns lag. Ob das nun mein eigenes Empfinden war oder vielleicht auch das der Statistikabteilung: Aber an Tag drei fühlte es sich nicht so an, als würde es ums Ankommen gehen. Da ging es nur um die Strecke. Und ich fragte mich, ob wir überhaupt ankommen wollten.
Wir hatten schon den Fläming erreicht und im Rasthaus zum Tiefen Brunnen gab es noch mal einen Kuchenstopp. Obwohl das mit dem Kuchen beinahe nicht klappte. Opa Erwin feierte seinen 124. und die Geburtstagsgesellschaft kaffeete an langer Tafel im Nebenraum. Wir starrten auf die leere Kuchentheke und erfragten das, was offensichtlich nicht da war. „Kuchen? Nein ... Oder warten Sie, ich schau mal hinten,“ schürte die wenig euphorische Bedienung unsere Hoffnungsglut und verschwand in der Tür.
Ich fragte mich, ob sie jetzt gleich mit einem Stück Kuchen aus dem Partyzimmer kommen würde, wo noch „py Birth“ draufgesahnt wäre und Wachskleckse ausgepusteter 124 Kerzen die Herkunft zweifelsfrei bestätigen würden. Aber es kam schlimmer. Sie kam zurück und schüttelte nur den Kopf: „Wir haben keinen Kuchen.“ Ich hielt die Luft an; vermutlich sammelten sich Tränen der Enttäuschung in meinen Augen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sie sich nach endlosen Sekunden doch noch bequemte hinzuzufügen: „Nur Apfelstrudel. Mit Vanilleeis.“ Ich atmete weiter und wir bestellten zwei Stück.
Es wäre unfair noch hinzuzufügen, dass dieser Nicht-Kuchen ein Vermögen gekostet hat. Vielleicht haben sie’s ja Opa Erwin wenigstens von der Gesamtrechnung abgezogen, wenn sie seinen Kuchen schon an Drittgäste weiterverkauft haben. Während ich das Finanzielle regelte, übernahm der Mountainbiker die Getränkeversorgung – und schüttete seine Apfelschorle in meine sprudelfrei erzogene Getränkeflasche. Aber ein bisschen panisch schütteln, und dieser kleine Fauxpas war wieder aus der Welt und es blieb nur Apfel, Wasser – und die Weiterfahrt.
Wie pedalten weiter gen Norden, schlugen einige Haken durch die Nuthe-Nieplitz-Niederung und folgtem dem x-ten Triftweg. Ich glaube ja mittlerweile, dass es im Berliner Umland mehr Triftwege als Hauptstraßen gibt. Jedes Nest hat seinen eigenen. Brauchte man scheinbar ja auch früher: Auf diesen einfachen, unbefestigten Wegen trieben Bauern ihre Tiere auf die Weide. Daher sind die Triftwege auch heute noch ziemlich breit und – meinem Erleben nach auch ziemlich weit verbreitet.
In Tremsdorf gönnten wir uns noch einmal eine kurze Pause. Es ging jetzt viel auf der Straße lang. Es waren die letzten Kilometer vor dem Ziel und die Sonne verließ uns allmählich. Ich wollte noch nicht ankommen, aber da sein. Es waren noch knapp 40 Kilometer.
In Güterfelde, 15 Kilometer nach Tremsdorf noch ein Stopp. Es begann zu regnen und wir warteten auf einer Bank ab. Der Mountainbiker gönnte sich noch ein Energiegel. Er war energietechnisch nicht allzu weit von Leipzig entfernt und wenig gewillt, die Erfahrung allzu plastisch noch einmal in Erinnerung zu rufen. Außerdem ergab ein Blick auf das Regenradar, dass sich eine kleine Pause lohnen würde. Der Regen zog schmallippig über Berlin und wir mussten ihn nur ziehen lassen bevor wir in die Stadt einfuhren.
Über Kleinmachnow und Zehlendorf erreichten wir die Stadt mit dem großen B. Wir fuhren die Clayallee hoch, versuchten uns an den Bürgersteigen, aber da war zu wenig Platz und zu viel Ablenkung. Aber die Straßen waren zum Glück verhältnismäßig leer, sodass wir auch hier recht gut fahren konnten.
Dahlem, mein Dahlem. Ich erkannte die Villen, die Atmosphäre, das Leben; und wusste doch nie, wo ich genau war. Wir stellten fest, dass wir beide eine FU-Vergangenheit hatten. Mir kam die Zeit des Studiums so weit entfernt, in einer so anderen Welt vor. Aber ich freute mich, wieder hier zu sein.
Ich beobachtete die Stadt, radelte ohne wahrzunehmen, wie erschöpft ich war. Ohne wahrzunehmen, dass ich mich überhaupt anstrengen musste. In Gedanken war ich bei der Rede, die ich halten sollte. Denn eine Tour müsse mit einer Rede beendet werden, so der Mountainbiker. Also ließ ich mich ablenken, von den Worten in meinem Kopf. Der Essenz der Tour.
Schmargendorf, Wilmersdorf. Und ich erkannte die Strecke, die ich damals mit dem Fahrrad zur Uni fuhr, um meine Magisterarbeit abzugeben. Lichtjahre entfernt. Ku’damm, Budapester Straße und dann Hofjägerallee. Hier erst wusste ich wieder, wo wir waren. Hier erst hätte ich mich nicht mehr verfahren.
Es in der Zwischenzeit dunkel geworden. Wir folgten wieder dem Mountainbike-Taglicht. „Das Beste kommt zum Schluss,“ sagte Andreas und wies auf den Tiergarten. Ich war gedanklich so weit weg, dass ich ihm fast ins Rad fuhr, weil ich vergaß abzubiegen. Und dann waren wir wieder im Wald. Alles dunkel, nur da Welt, wo der Lichtkegel sie ausleuchtete. Und mitten in der Stadt waren wir noch einmal allein.
Und dann verstand ich, was er meinte, als er sagte, die Tour brauche einen vernünftigen Abschluss: Durch die Bäume hindurch schien das Licht. Das Licht des Brandenburger Tores. Und wir folgten dem Licht, bis es ganz vor uns aufragte, das Tor.
Vor uns das Tor. Hinter uns drei Tage, 520 Kilometer, 4.000 Höhenmeter. Es war Montag, 20 Uhr 40 als wir ankamen und die Tour beendeten: Mit den Worten, die jeder von uns auf den letzten Kilometern vorbereitet hatte. Ich wünschte, ich hätte mehr von dem Moment wahrgenommen. Aber ich stand weit neben mir. Da war das Tor, gelb erleuchtet. Da war meine Erschöpfung. Da war das Gefühl, oder vielmehr die Ahnung, dass ich es wohl geschafft haben musste. Aber nichts von alldem drang wirklich zu mir durch. Ich weiß nicht, wo ich war. Ich habe mich dort verloren. Und erst viele Tage später wiedergefunden.
Ein Tourist machte Fotos von uns. Wir vor dem Brandenburger Tor. Man sieht nicht, wo wir herkommen. Nur zwei Radfahrer, die müde vor dem Brandenburger Tor sitzen. Müde und ein kleines bisschen glücklich.
Angekommen. Für einen Moment.
Und dann stieg jeder noch ein letztes Mal auf sein Rad. Und wir fuhren die letzten Kilometer nach Hause – nach drei Tagen erstmalig wieder in verschiedene Richtungen.
Als ich zu Hause ankam, wurde ich begrüßt mit: „Meine Heldin!“ Ich sog den klang dieser Worte lächelnd ein, hängte das Caad langsam an die Wand, drehte mich um und sagte: „Shhhht! Wir sind doch keine Helden! Wir sind nur ein bisschen Rad gefahren.“ Und ich lachte.
Erinnerungsstücke
.::. Muskelkater vom Bremsen. Hab ich wohl doch was falsch gemacht. .::. Von „Es tut so gut, wieder auf dem Rad zu sitzen“ über „Ich will eigentlich nur nach Hause.“ Zu „…“ .::. Schrappiert wurde kurz hinter dem Ortsausgangsschild von Remptendorf. Gemeint ist, sich scheuernd, kratzend über eine raue Oberfläche bewegen. Das Wort ist übrigens verwandt mit ‚scharf‘. Trotzdem ist mir nicht klar, was im Schrappwerk hergestellt wird. Späne gab es jedenfalls. .::. Die schöne alte Frau im schwarzen Rock, die die Blumen vor der Wassermühle ausgerichtet hat. Mein perfektes Bild, von dem kein Foto existiert. .::. Die Bank vor dem Haus vor dem Feld. Leer zwar, aber dennoch perfekt. .::. Die Kürbisfelder vor Berlin: Kürbisse bis zum Horizont .::.
Geklaute Worte
.::. William Shakespeare: Romeo&Juliet; III, 2 .::. Johann Wolfgang von Goethe: Vier Jahreszeiten .::. Robert Frost: The Road Not Taken .::.
Und die Fotos
Sind von uns beiden.
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mich von der Euphorie tragen lassen.
Ich habe bis auf die Knochen gefroren und
Blut und Wasser geschwitzt.
Der dritte Tag begann mit noch zuen Augen. Ich war schon wach, aber noch nicht bereit, den Tag zu begrüßen. Der Wecker auch nicht. Ganz anders der Mountainbiker: „Guten Morgen. Siehst du? Blauer Himmel! Wollen wir schon losfahren? Solange es noch schön ist …“
Die Aussicht auf Sonne, mehr Zeit auf der Strecke und vielleicht sogar Muße für ein Mittagsschläfchen im Feld überzeugte mich. Ich fuhr die Systeme hoch – gerade so weit, dass ich es schlaftrunken bis ins Bad und von dort zum Frühstücksbuffet schaffte. Und das konnte sich sehen lassen: Wir aßen mit großem Appetit und waren auch nicht kleinlich bei der Ausweitung der Gastfreundschaft auf die Mitnehmbrote.
Es gibt auch am dritten Tag noch genügend Gründe, aufzustehen und wieder aufs Rad zu klettern.
Halb neun standen wir auf der Strecke. Der Himmel sah noch immer nicht nach Unwetter aus und wir fuhren gut gelaunt in den letzten Tag. Auch die Stadtfahrt im morgendlichen Berufsverkehr war weit weniger anstrengend als befürchtet: In Nullkommanichts waren wir auf Stadtparkwegen und cruisten so unbehelligt von hupenden, hektischen Autofahrern durch Leipzig. Und es dauerte gar nicht lange, da zeigte uns ein Radschild an, wo genau wir uns befanden: drei Icons – Sonne, Rad und Hügel – und ein Name – Radweg Berlin Leipzig. Juchhu! Wir strahlten und entschieden uns gleich, dem Garmin eine Ruhepause zu gönnen und einfach den neuen Schildern zu folgen. Schließlich wussten wir beide, dass die Radwege in Deutschland, zumal die großen, in der Regel die schönste Option waren.
Also folgten wir dem schönen Weg und fuhren – nach Süden. Das kam sogar mir Orientierungsanalphabeten merkwürdig vor. Da die Sonne-Mond-Sterne-Schilder noch immer sagten, wir seien richtig, zweifelte ich die Radwegeplanung von Bund und Land an. Viele Wege führen nach Rom und warum nicht den Radweg in Schleifen planen anstatt direkt. Nachvollziehbar erschien es mir. Also nutzte ich unseren Stopp an der Parthe, einem Miniflüsschen im beschaulichen Taucha, und tippte „Berlin Leipzig Radweg“ ins Mobilfunkinternet ein. Und tatsächlich: Es spuckte irgendetwas von 250 Kilometern Gesamtlänge aus. Hilfesuchend sah ich zur Statistikabteilung rüber. Vereinbart waren 200 gewesen. Nun lassen die Statistiker so eine Abweichung natürlich nicht auf sich sitzen. Und wir schmissen sofort das Garmin wieder an.
Ich war in Gedanken schon bei der Zieleinfahrt und kletterte daher gerade aufs Caad als mir der Mountainbiker noch das Tageshighlight zeigte: Vor der Brücke planschte ein Biber gegen den Strom und wartete ungeduldig, dass wir endlich weitergingen. Er hatte ja noch was vor und musste die Brücke, auf der wir pausierten, passieren. Aber da musste er noch einen Moment in Warteposition paddeln: Ich hatte ja noch nie einen echten Biber gesehen! Ich war ganz hin und weg. So ein schönes Tier! Und er sah genauso aus wie der Biber aus der Zahnpastawerbung! Obwohl das wiederum schon etwas erschreckend war: Meine Bildung hab ich scheinbar aus dem Fernsehen. Und nur von daher kannte ich Biber. Bisher.
Nach Tausa ging es endlich wieder Richtung Norden und wir kamen schnell zurück auf die blaue Garminroute. Ich nutzte die Zeit und überlegte zum x-ten Male auf dieser Tour, wie ich eigentlich durchs Leben komme. Dass ich noch nie einen echten Biber gesehen hatte, bedeutete ja nicht, dass ich noch nie einem begegnet war. Hätte der Mountainbiker mir den kleinen Schwimmer nicht gezeigt, wäre der Dentagard-Biber der Neunziger noch immer mein Master-Biber. Ich sehe die Dinge einfach nicht.
Wie oft hat der Mountainbiker gefragt: Hast du gerade den Vogel gesehen? Die Villa? Den Hirsch? Den Baum? Das Spaceshuttle? Den winkenden Bären mit Bergsteigerausrüstung und Sonnenbrille? Und natürlich hatte ich nichts von all dem gesehen.
Wir sind doch immer die selbe Strecke gefahren! Aber während der Mountainbiker die ganze Welt wahrgenommen hat und zu jedem Zeitpunkt wusste, was in den 360 Grad um ihn herum vorging, hatte ich nur einen sehr eingeschränkten Lichtkegel. Ich sah das Werbeschild für die Eierlikörtorte. An den rot beapfelten Bäumen jedoch fuhr ich vorbei. Ich sah auch in der Ferne die alte Frau im schwarzen Rock. Die Zwillingsfamilie mit Zwillingshund, die an uns vorbei ging, sah ich nicht. Die hatten ja auch kein Kuchenschild um den Hals hängen, sagt der Mountainbiker. Vielleicht waren sie einfach nicht wichtig, sage ich. Verdammt – denke ich.
Wieder etwas, das nur der Mountainbiker sah und ich nicht: Hindrappierter Kürbis.
In der Zwischenzeit hatte uns das Garmin auch wieder auf den Berlin-Leipzig-Radweg navigiert, welcher sich nun auch so verhielt, wie man das erwarten würde: Er fuhr gen Norden. Also folgten wir. Obwohl noch 150 Kilometer vor uns lagen, begann der Mountainbiker bereits, die Endstrecke umzuplanen: Wir befanden uns nämlich schon in seiner „Hood“: All die Wege; all die Dörfer; all die Trails; alles, was vor uns lag – kannte er schon von vielen früheren Touren. Und die von mir an Rechnerkarten geplante Einfahrtschneise war nicht dass, was unser Drei-Tages-Ausflug als Abschluss verdient hatte – so der Radroutinier.
Es ging schon mal damit los, dass ich das Tourende am S-Bahnhof Marienfelde geplant hatte. Nach 500 Kilometern in die S-Bahn steigen und das letzte Stück mit AB-Ticket nach Hause fahren, erschien mir bei der Schreibtisch-Tourenplanung völlig legitim. Soviel Weicheierei schloss der Mountainbiker allerdings schon beim ersten Blick auf das Kartenmaterial komplett aus. Und ich muss zugeben, nach drei Tagen dort draußen gab ich ihm Recht.
Der zweite Fehler war der Verkehr. Es gäbe bessere Strecken, um nach Berlin reinzufahren als über den Marienfelder Damm ohne Radwege. Mir war’s recht. Verfehlen konnten wir diese Stadt ja nicht.
Aber erst mal führten unsere beiden Wege uns noch die selbe Strecke lang: quer durch die Dübener Heide. Und diese war wieder einmal wie geschaffen für einen Mountainbike-Rennradausflug: Asphalt wechselte sich ab mit mehr oder minder festen Waldwegen. Den minderen davon sei mit folgendem überlieferten Dialog Rechnung getragen:
Szene: Deutscher Wald. Mit viel Blattwerk auf den holprigen, aber im Wesentlichen festen Waldwegen. Ein Mountainbiker, Eispickel, und eine Rennradlerin, Frau Susi K, heizen durch den Wald, dass das herbstliche Blattwerk hinter ihren Rädern wie Schneeflocken aufwirbelt und die Hasen nur so rechts und links davonstieben. Rechts plötzlich ein Abzweig auf einen Singletrail mit noch mehr Blattwerk, Kurven und hier und da Waldzeug quer über dem Weg.
EP: ... Oh, da rechts sah es aber auch gut aus!
FSK: Das Garmin sagt, dass wir da hätten rechts fahren müssen. [Sie kehren um.] Da liegt ja ein Baum quer über dem Weg!!
EP: Toll, da kann man ja drüberfahren!
FSK: Wer hat denn hier einen Baum hingelegt? So was Blödes … [hebt das Rennrad an und trägt es drüber. Vorhang!]
Wenn der Abzweig rechts mal "gut aussieht", muss es sich nicht immer - wie hier - um Asphalt handeln.
Kleine Anekdote am Rande: Dieser Dialog überlebte nur dank des exzellenten Gedächtnisses des Mountainbikers. Mein eigenes Erinnerungsvermögen hatte diesen zweiten Mountainbiketrail bereits fast vollständig gelöscht. Ich finde, das sagt viel über das Trauma aus, das ich noch von MTB6 hatte.
Nach der Dübener Heide wechselten wir für ein paar Kilometer auf den Elberadweg, der wieder was für die Rennradseele war: schön asphaltiert ging es über Felder, wo mächtig Ausflugsradlerbetrieb herrschte. Entgegen der Unwetterwarnung lachte die Sonne nämlich schon den ganzen Tag ihr schönstes Herbstlachen und das sorgte für gute Stimmung auf einem der ganz großen Fernradwege. Wir nahmen sogar Bierbestellungen beim Überholen an. Würden wir doch vor allen anderen am Rastpunkt ankommen.
Das taten wir auch, nur gab es dort kein Bier: Wir hielten an der kleinen, aus Feldstein gemauerten Radfahrerkirche von Priesitz. Der Mountainbiker war schon einmal hier, ließ mich an seinen Erinnerungen teilhaben und versuchte, meine Erinnerungen an die Fotos, die er mir von hier gezeigt hatte, aufzufrischen. Vergeblich.
Eine Radfahrerkirche richtet sich vor allem an Radfahrer, die zum Besuch der Kirche und zur Andacht aufgefordert werden sollen. Allein – die Kirche war durch Gitter und Schloss vor Kirchgängern abgesichert. Man konnte zwar hindurch schauen und sich auch hindurch hangeln, um eine Gabe in das Spendentöpfchen zu werfen. Rein kam man jedoch nicht. Bloß gut, dass ich Agnostiker bin. Als gläubiger Christ wäre ich womöglich enttäuscht gewesen.
Als unsere bierbestellenden Freunde auf den Kirchhof pedalten, waren wir schon wieder abfahrbereit und winkten auf ein baldiges Wiedersehen. Der nächste Stopp war nur einen Katzensprung entfernt: In Pretzsch wartete unsere Elbfähre. Genaugenommen warteten wir erst einmal …
Und hier ein Wiedererkennen: An diesem Ort war ich schon einmal! Auf dieser Bank habe ich schon einmal gewartet! Solch erhellende geografische Momente sind bei mir ja nun wirklich selten. Gestärkt von so gewonnenem Selbstvertrauen machte ich mich sogleich an den erstmaligen Versuch, meinen Lenker mal alleine festzuschrauben. Man hat ja nicht immer einen Mountainbiker dabei. Und jener mahnte bei jedem der gefühlt 512 Vorbauschraubvorgängen, dass ich das ja eigentlich selber machen müsste, sonst würde ich das nie lernen. So hatte ihm das auch seine Schnegge beigebracht, als er noch schrauben ließ. Der Schüler hat schnell gelernt. Und irgendwo tief drinnen wusste ich, dass er Recht hatte.
Endlich kamen auf der Gegenseite zwei Autos, sodass die Fähre gar nicht anders konnte als zu uns rüber zu schippern. Wir waren die einzigen und der Fährmann verwickelte uns in ein fährmanntypisches Kurzgespräch („Wo wollt ihr heute noch hin? Ah, bis Berlin. Na, das schafft ihr locker. Hier sind ja laufend Radfahrer, die bis nach Berlin fahren.“ „Aha?!“) Und schon waren wir am Nordufer der Elbe.
Fähre mit hohem Wiedererkennungswert: Da freut sich Frau K.
Es muss so um die Mittagszeit gewesen sein, denn der Mountainbiker versprach uns ein richtiges Mittagessen in dem „Siehst du das Dach da hinten am Horizont?“-Haus. Au ja, fein! Bisher hatten wir immer draußen gepicknickt – von den Kuchenpausen mal abgesehen. Und so schön das war – ein richtig großer Teller Nudeln klang hervorragend!
Mit dieser kulinarischen Aussicht begann mein Magenmännchen sofort mit dem Auskehren. Und als es gerade fertig war, sich nach getaner Arbeit genüsslich streckte und lässig auf den Besen gelehnt auf die nun bald folgende warme Mittagsration wartete, zeigte der Mountainbiker in den Himmel: Ob ich die schwarzen Wolken sehe und dass es vielleicht doch besser wäre, weiterzufahren solange es noch nicht regnete. Essen würden wir ja dann können, wenn es anfängt zu regnen. Was soll ich sagen – es fing natürlich nie an zu regnen.
Das Magenmännchen fühlte sich über den Tisch gezogen, machte Tapsen an die Decke und sandte Verhungerungssignale ans Hirn. Und da ich bei so etwas nicht an mich halten kann und daher sogleich für die Reisegruppe übersetzte: „Ich kann nicht mehr!“, steuerten wir den erstbesten windstillen Bio-Esstisch an: eine leicht abschüssige Mini-Wiese direkt an der Straße. Wir setzten uns in Blickrichtung des kleinen Flusses irgendwo am Ende des Grüns, das Grau des Asphalts im Rücken.
Egal, was man in so einem Moment aus dem Rucksack kramt – wenn man den ganzen Tag auf dem Rad und an der frischen Luft ist, schmeckt alles so als würde man es das erste Mal probieren. Und so schlemmten wir wie die Könige und ich war glücklich und zufrieden. Und noch etwas schmeckt da draußen besser als überall sonst: Der Mountainbiker reichte den letzten der drei am ersten Tag stibitzten Äpfel – aufgeschnitten und entkernt. Ich hatte ganz vergessen, nach wie vielen guten Erinnerungen ein Apfel schmeckt, wenn man ihn aufgeschnitten bekommt.
Nachdem sich ein paar Regentropfen zu uns verirrt hatten, übernahm die Sonne wieder das Regiment und schien uns den Weg heim. Wir kamen gut voran auf den überwiegend asphaltierten Radwegen. Es ging noch ein Stück den Elbradweg, dann kamen wir auf den Elsterradweg. Der Mountainbiker zählte durch, dass er schon auf fast allen Flussradwegen in Deutschland unterwegs war. Da war ich noch weit entfernt von, aber zumindest erinnerte ich mich an die Elster: Vor genau vier Wochen stand ich schon einmal mit dem Rad an der Abzweigung hinter Gorsdorf. Damals war ich zu erschöpft, um dem Radweg weiter zu folgen und blieb auf der Straße, die mich am schnellsten zum nächsten Bahnhof brachte.
Dieses Mal fuhren wir bei Kilometer 400 nach links und ich sah, was mir damals entging. Vielleicht, so dachte ich für einen Moment, stimmte mein Plan vom Leben doch nicht: Dass das Leben aus lauter Kreuzungen besteht, an denen man sich für einen Weg entscheiden muss; und man mit jeder Entscheidung zwar zu wieder neuen Kreuzungen gelangt, aber niemals dorthin zurückkehrt, wo man hergekommen ist. Vielleicht, so dachte ich, ist das Leben doch weniger linear und man kann zu den Kreuzungen zurückkehren, an denen man schon einmal stand.
Aber man selbst ist dann ein anderer. Und damit ist auch die Kreuzung eine andere. Ich seufzte.
Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both.
And be one traveler, long I stood | And looked down one as far as I could | To where it bent in the undergrowth.
Wir folgten weiter der Orientierung des Nicht-Orientierungslosen: Listerfehrda, Seyda, Seehausen, Blönsdorf, Kaltenborn, Malterhausen. Und das Garmin zählte nur noch die Kilometer mit. Die Statistikabteilung zählte auch, aber anders als die anderen Tage. Rückwärtsgewandter. Es ging nicht mehr darum, wie viel noch vor uns lag – Zeit oder Kilometer. Sondern wie viel hinter uns lag. Ob das nun mein eigenes Empfinden war oder vielleicht auch das der Statistikabteilung: Aber an Tag drei fühlte es sich nicht so an, als würde es ums Ankommen gehen. Da ging es nur um die Strecke. Und ich fragte mich, ob wir überhaupt ankommen wollten.
Wir hatten schon den Fläming erreicht und im Rasthaus zum Tiefen Brunnen gab es noch mal einen Kuchenstopp. Obwohl das mit dem Kuchen beinahe nicht klappte. Opa Erwin feierte seinen 124. und die Geburtstagsgesellschaft kaffeete an langer Tafel im Nebenraum. Wir starrten auf die leere Kuchentheke und erfragten das, was offensichtlich nicht da war. „Kuchen? Nein ... Oder warten Sie, ich schau mal hinten,“ schürte die wenig euphorische Bedienung unsere Hoffnungsglut und verschwand in der Tür.
Ich fragte mich, ob sie jetzt gleich mit einem Stück Kuchen aus dem Partyzimmer kommen würde, wo noch „py Birth“ draufgesahnt wäre und Wachskleckse ausgepusteter 124 Kerzen die Herkunft zweifelsfrei bestätigen würden. Aber es kam schlimmer. Sie kam zurück und schüttelte nur den Kopf: „Wir haben keinen Kuchen.“ Ich hielt die Luft an; vermutlich sammelten sich Tränen der Enttäuschung in meinen Augen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sie sich nach endlosen Sekunden doch noch bequemte hinzuzufügen: „Nur Apfelstrudel. Mit Vanilleeis.“ Ich atmete weiter und wir bestellten zwei Stück.
Es wäre unfair noch hinzuzufügen, dass dieser Nicht-Kuchen ein Vermögen gekostet hat. Vielleicht haben sie’s ja Opa Erwin wenigstens von der Gesamtrechnung abgezogen, wenn sie seinen Kuchen schon an Drittgäste weiterverkauft haben. Während ich das Finanzielle regelte, übernahm der Mountainbiker die Getränkeversorgung – und schüttete seine Apfelschorle in meine sprudelfrei erzogene Getränkeflasche. Aber ein bisschen panisch schütteln, und dieser kleine Fauxpas war wieder aus der Welt und es blieb nur Apfel, Wasser – und die Weiterfahrt.
Wie pedalten weiter gen Norden, schlugen einige Haken durch die Nuthe-Nieplitz-Niederung und folgtem dem x-ten Triftweg. Ich glaube ja mittlerweile, dass es im Berliner Umland mehr Triftwege als Hauptstraßen gibt. Jedes Nest hat seinen eigenen. Brauchte man scheinbar ja auch früher: Auf diesen einfachen, unbefestigten Wegen trieben Bauern ihre Tiere auf die Weide. Daher sind die Triftwege auch heute noch ziemlich breit und – meinem Erleben nach auch ziemlich weit verbreitet.
In Tremsdorf gönnten wir uns noch einmal eine kurze Pause. Es ging jetzt viel auf der Straße lang. Es waren die letzten Kilometer vor dem Ziel und die Sonne verließ uns allmählich. Ich wollte noch nicht ankommen, aber da sein. Es waren noch knapp 40 Kilometer.
In Güterfelde, 15 Kilometer nach Tremsdorf noch ein Stopp. Es begann zu regnen und wir warteten auf einer Bank ab. Der Mountainbiker gönnte sich noch ein Energiegel. Er war energietechnisch nicht allzu weit von Leipzig entfernt und wenig gewillt, die Erfahrung allzu plastisch noch einmal in Erinnerung zu rufen. Außerdem ergab ein Blick auf das Regenradar, dass sich eine kleine Pause lohnen würde. Der Regen zog schmallippig über Berlin und wir mussten ihn nur ziehen lassen bevor wir in die Stadt einfuhren.
Über Kleinmachnow und Zehlendorf erreichten wir die Stadt mit dem großen B. Wir fuhren die Clayallee hoch, versuchten uns an den Bürgersteigen, aber da war zu wenig Platz und zu viel Ablenkung. Aber die Straßen waren zum Glück verhältnismäßig leer, sodass wir auch hier recht gut fahren konnten.
Dahlem, mein Dahlem. Ich erkannte die Villen, die Atmosphäre, das Leben; und wusste doch nie, wo ich genau war. Wir stellten fest, dass wir beide eine FU-Vergangenheit hatten. Mir kam die Zeit des Studiums so weit entfernt, in einer so anderen Welt vor. Aber ich freute mich, wieder hier zu sein.
Ich beobachtete die Stadt, radelte ohne wahrzunehmen, wie erschöpft ich war. Ohne wahrzunehmen, dass ich mich überhaupt anstrengen musste. In Gedanken war ich bei der Rede, die ich halten sollte. Denn eine Tour müsse mit einer Rede beendet werden, so der Mountainbiker. Also ließ ich mich ablenken, von den Worten in meinem Kopf. Der Essenz der Tour.
Schmargendorf, Wilmersdorf. Und ich erkannte die Strecke, die ich damals mit dem Fahrrad zur Uni fuhr, um meine Magisterarbeit abzugeben. Lichtjahre entfernt. Ku’damm, Budapester Straße und dann Hofjägerallee. Hier erst wusste ich wieder, wo wir waren. Hier erst hätte ich mich nicht mehr verfahren.
Es in der Zwischenzeit dunkel geworden. Wir folgten wieder dem Mountainbike-Taglicht. „Das Beste kommt zum Schluss,“ sagte Andreas und wies auf den Tiergarten. Ich war gedanklich so weit weg, dass ich ihm fast ins Rad fuhr, weil ich vergaß abzubiegen. Und dann waren wir wieder im Wald. Alles dunkel, nur da Welt, wo der Lichtkegel sie ausleuchtete. Und mitten in der Stadt waren wir noch einmal allein.
Und dann verstand ich, was er meinte, als er sagte, die Tour brauche einen vernünftigen Abschluss: Durch die Bäume hindurch schien das Licht. Das Licht des Brandenburger Tores. Und wir folgten dem Licht, bis es ganz vor uns aufragte, das Tor.
Vor uns das Tor. Hinter uns drei Tage, 520 Kilometer, 4.000 Höhenmeter. Es war Montag, 20 Uhr 40 als wir ankamen und die Tour beendeten: Mit den Worten, die jeder von uns auf den letzten Kilometern vorbereitet hatte. Ich wünschte, ich hätte mehr von dem Moment wahrgenommen. Aber ich stand weit neben mir. Da war das Tor, gelb erleuchtet. Da war meine Erschöpfung. Da war das Gefühl, oder vielmehr die Ahnung, dass ich es wohl geschafft haben musste. Aber nichts von alldem drang wirklich zu mir durch. Ich weiß nicht, wo ich war. Ich habe mich dort verloren. Und erst viele Tage später wiedergefunden.
Ein Tourist machte Fotos von uns. Wir vor dem Brandenburger Tor. Man sieht nicht, wo wir herkommen. Nur zwei Radfahrer, die müde vor dem Brandenburger Tor sitzen. Müde und ein kleines bisschen glücklich.
Angekommen. Für einen Moment.
Und dann stieg jeder noch ein letztes Mal auf sein Rad. Und wir fuhren die letzten Kilometer nach Hause – nach drei Tagen erstmalig wieder in verschiedene Richtungen.
Als ich zu Hause ankam, wurde ich begrüßt mit: „Meine Heldin!“ Ich sog den klang dieser Worte lächelnd ein, hängte das Caad langsam an die Wand, drehte mich um und sagte: „Shhhht! Wir sind doch keine Helden! Wir sind nur ein bisschen Rad gefahren.“ Und ich lachte.
196 Kilometer | 525 Höhenmeter
Das Kleingedruckte:Erinnerungsstücke
.::. Muskelkater vom Bremsen. Hab ich wohl doch was falsch gemacht. .::. Von „Es tut so gut, wieder auf dem Rad zu sitzen“ über „Ich will eigentlich nur nach Hause.“ Zu „…“ .::. Schrappiert wurde kurz hinter dem Ortsausgangsschild von Remptendorf. Gemeint ist, sich scheuernd, kratzend über eine raue Oberfläche bewegen. Das Wort ist übrigens verwandt mit ‚scharf‘. Trotzdem ist mir nicht klar, was im Schrappwerk hergestellt wird. Späne gab es jedenfalls. .::. Die schöne alte Frau im schwarzen Rock, die die Blumen vor der Wassermühle ausgerichtet hat. Mein perfektes Bild, von dem kein Foto existiert. .::. Die Bank vor dem Haus vor dem Feld. Leer zwar, aber dennoch perfekt. .::. Die Kürbisfelder vor Berlin: Kürbisse bis zum Horizont .::.
Geklaute Worte
.::. William Shakespeare: Romeo&Juliet; III, 2 .::. Johann Wolfgang von Goethe: Vier Jahreszeiten .::. Robert Frost: The Road Not Taken .::.
Und die Fotos
Sind von uns beiden.
Caliope - 7. Okt, 10:30