Freitag, 18. Mai 2007

Sommer in Hamburg.

Wenn ich mich in einen Zug setze, um stundenlang zu einem Mann zu fahren, damit ich ein wenig Zeit mit ihm verbringen kann, dann sieht das auf den ersten Blick so aus, als sei ich ein Sextourist. Nur, dass es irgendwie nie zum Sex kommt. Das könnte man schade finden. Meistens fällt es mir aber ohnehin erst auf dem Nachhauseweg auf und dann ist es schon zu spät. Während ich da bin und also während der Zeit, in der Sex möglich gewesen wäre, bin ich anderweitig beschäftigt. Ich habe dann nämlich in der Regel alle Hände voll zu tun, mein Herz beisammen zu halten.

Wenn man so will, bin ich ein Herztourist. Ich reise meinem Herzen hinterher. Ich kenne viele Menschen, die ihr eigenes behüten, es in einen Safe packen oder wie die britischen Kronjuwelen in einem Glaskasten ausstellen: ansehen, aber nicht anfassen. Anfassen, aber nicht mitnehmen. Mitnehmen, aber nicht behalten.

Mein Herz ist wie ein paar Handschuhe – ich lass es überall liegen. Den Verlust bemerke ich immer sofort. Aber die noch warmen Hände stören sich nicht so schnell an der Kälte. Aber irgendwann fangen sie doch an zu zittern. Erst leicht. Dann werden sie blau. Und dann wünscht man sich, man hätte besser auf die Handschuhe aufgepasst. Man geht in ein Textilgeschäft und kauft neue. Dem Herzen muss man hinterher reisen und es wieder zurückholen.

Ich habe mich in den Zug gesetzt und bin nach Hamburg gefahren. Um ein paar Stunden mit dem Hüter meines Herzens zu verbringen – und ihm, was mir gehört in einem unaufmerksamen Moment aus der Hand zu reißen. Denn mir war kalt. Ich zitterte schon seit Wochen und in manchen Nächten weckte der Mond mich, weil ich blau anlief.

In Hamburg blieb ich bei ihm. Ich lief solange durch seine Stadt mit ihm bis unserer beider Füße weh taten. Ich blieb solange wach mit ihm bis die, die sich vor unseren Augen die Seele aus dem Leib tanzten, um sich später den Verstand aus dem Hirn zu vögeln nicht mehr wussten, wen sie noch gerade eben mit den Lippen an sich gefesselt hatten. Ich schlief neben ihm ein und wachte neben ihm auf.

Manchmal sagte er Dinge wie, dass er gerne reisen möchte. Jedes Jahr in einem anderen Land arbeiten. Bloß nie zu Hause sein. Bloß nie da sein. Vor meinem inneren Auge stand ich da, Maurerschippchen in der Hand, Mörtel im Gesicht. Aber es gelang mir nicht, die Mauer hochzuziehen, die derlei Aussagen verlangten. Noch bevor ich die erste Reihe ordentlich verspachtelt hatte, sprach er schon wieder von anderen Dingen und mir fielen Tausend Gründe ein, die irrationalerweise gegen diese Mauer sprachen. Das Schippchen fiel mir aus der Hand und ich seufzte innerlich. Wer braucht schon einen sentimentalen Maurer?

In seiner Nähe hörte das Zittern auf. Ich wurde ganz ruhig und aalte mich in seiner Wärme wie ein Kätzchen in der Sommersonne. Vielleicht lag es daran, dass ich mein Herz bei ihm spürte. Als meine Lippen nicht mehr blau waren, sondern kirschrot, hatte ich schon vergessen, weshalb ich her gekommen war.

Ich riss ihm gar nichts aus der Hand, was mir gehörte. Ich nahm von meinem Herzen mit, was ohnehin überflüssig war. Das war nicht viel, aber zumindest verlor ich nicht mein Gesicht vor mir, denn ich kam ja nicht mit leeren Händen zurück. Und wenn ich, so redete ich mir ein, jedes Mal einen Teil meines Herzens nach Hause bringen würde, wäre es auch irgendwann wieder ganz meins.

Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, packte mein Herz schon wieder Koffer. Ich zog die Decke fester um mich und versuchte weiterzuschlafen. Aber niemand kann einschlafen, wenn die Füße kalt sind.
irie_ways - 21. Okt, 22:46

Wunderschön geschrieben. Ich kann es auf eine gewisse Art und Weise nachvollziehen, was da steht, wenn auch irgendwie anders.


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