Samstag, 7. April 2007

Orientierungslos.

Bei der Tour de France wartet man Stunden hinter der Absperrung. Bei Regen & Sonne. Das Hauptfeld rauscht dann mit 60 km/h in wenigen Sekunden vorbei.

Vor vier Tagen hab ich mein Germanistikstudium beendet. Ich stehe noch immer hinter der Bande und heule.

Es war irgendwann während des Abiturs, als wir den Ganymed von Goethe analysieren und interpretieren sollten. Es war das erste Gedicht, vor dem ich wie vor einem alten, mit fünf Siegeln verschlossenen Buch saß. Alles Werkzeug, das ich hatte, war das bisschen Rhythmik und das bisschen Rhetorik. Die Schlösser machten leise klick und vor mir lag tiefe Schönheit.

Da wusste ich, dass ich Literatur studieren will.

Germanistin zu werden war sieben Jahre lang das größte Ziel in meinem Leben. Es drängte andere Dinge in den Hintergrund und rückte nur langsam näher. Es gab Zeiten, wo ich es gehasst habe. Alles von mir schmeißen wollte, weil ich dachte, ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Wo ich dachte: wozu? Ich habe das Studium gegen die Einwände meiner Eltern durchgesetzt und ich habe auf unzähligen Geburtstagsfeiern mein Studium verteidigt und Antworten auf die Fragen „warum?“ „wieso?“ „weshalb?“ gesucht. Und vor allem: „wozu?“. Die Antworten, die ich fand, waren wenig verwandtenkompatibel. Sie lagen nicht in meiner beruflichen Zukunft, sondern allein in meinem Studium selbst.

Ich habe Interpretationen gelesen, die wie guter Sex waren.

Ich habe Bücher dreimal gelesen und dreimal gehasst. Beim vierten Mal dann, hab ich angefangen, sie zu verstehen. Und beim fünften Mal hab ich sie geliebt.

Wenn ich traurig bin – oder glücklich, wütend – oder gelassen, weiß ich, welches Buch ich auf welcher Seite aufschlagen muss, um ganz bei mir zu sein. Meine Bücher im Regal sind alphabetisch sortiert, damit ich schneller finde, wonach ich suche.

Seit vier Tagen bin ich das, was ich immer sein wollte. Vor vier Tagen habe ich erreicht, worauf ich die ganzen Jahre hingearbeitet habe. Vor vier Tagen bin ich in nur wenigen Sekunden durch mein Ziel geschossen. Ich habe das große schwarze Loch nicht kommen sehen. Ich habe meine Orientierung verloren.

Ich bin morgens aufgewacht und hab mich hässlich, klein und elend gefühlt. Hässlich, weil ich meinen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen konnte. Klein, weil ich mir plötzlich so nutzlos und überflüssig vorkam. Elend, weil ich mich allein fühlte. Man ist sehr schnell sehr allein, wenn man den stolzen Glückwünschen der Freunde und Familie auf halbem Wege ein „Aber ...“ entgegenweint. Wenn man Glück hat, kriegt man nur Unverständnis als Antwort („Deine Sorgen möchte ich mal haben“). Ignorieren und verlachen schmerzen mehr.

Ich werde auch wieder andere Dinge finden, an die ich mein Herzblut hänge. Und ich werde mir neue Ziele setzen. Das weiß ich. Und doch: dieses war mein bisher größtes Ziel. Und es war ein sehr schönes. Jetzt habe ich es nicht mehr.

Vor ein paar Jahren hat sich ein Dozent meiner Uni das Leben genommen. Sein Leben war glücklich. Er hatte gerade seine Promotion erfolgreich abgeschlossen. Keiner verstand, warum er es getan hat. Ich schon.

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